Als sich Irene, die Tochter des Pfarrers Adam Schweiger, von Koserow auf der Insel Usedom auf den Weg nach Wolgast macht, um in der Buchdruckerei Ratdoldt und Speyer hinsichtlich einer Stellung vorzusprechen, glaubt sie noch daran, dass sich alles zum Positiven wenden wird, die Zeit der Veränderungen begonnen hat, sich endlich etwas bewegt in ihrem Leben. Sie muss jedoch erfahren, dass sie sich hierin grausam getäuscht hat, als sie sich als angeklagte Mörderin vor Gericht wiederfindet...
Irene ist 19 und wurde von ihrem Vater, der einst über eine ansehnliche Bibliothek verfügte, mit umfangreichen Wissen ausgestattet. Die Zeiten sind hart. Es ist das Jahr 1632, und nach langen Jahren voller Gewalt, Entbehrungen und Hunger, die der (später genannte Dreißigjährige) Krieg mit sich gebracht hat, schöpft die Usedomer Bevölkerung Hoffnung. Denn mit der Landung der Schwedischen Truppen des Königs Gustav II. Adolph im Juni 1630 ist nach dem Sieg über Wallensteins Truppen auf der Insel so etwas wie Frieden eingekehrt.
Etwa zeitgleich mit der jungen Frau befindet sich der Rechtsgelehrte Friedrich Consulator Junker zu Trostberg ebenfalls auf dem Weg nach Wolgast. Zurück in seine alte Heimat, die er vor Jahren mit dem festen Vorsatz verlassen hat, sie niemals wiederzusehen.
Irene und Friedrich treffen in einem Gasthaus erstmals aufeinander, und der gelehrte Junker sieht in der jungen Frau eine verständige Gesprächspartnerin, mit der es sich zu unterhalten lohnt. In Ermangelung seiner Studenten scheint Irene die beste Alternative zu sein, Konversation zu betreiben. Allerdings hält Friedrich zunächst eine Vorlesung und deklamiert im Monolog, wenn auch mit minimalen Pausen.
"Er unterbrach sich und sah Irene, deren Gesicht sich von der linken Schläfe bis zum rechten Mundwinkel in eine tadellose und ordentlich berechnete Sinuskurve verwandelt hatte, eine Sekunde lang aus zwei schwarzen Augen aufmerksam an..." (Seite 72)
Ihre nächste Begegnung steht dann unter keinem glücklichen Stern, Irene bedarf des Rechtsbeistandes bei ihrem Mordprozess...
Mit "Der Pfarrerstochter" legt Antonie Magen einen überwiegend sprachlich ausgefeilten Roman vor, in den die Umstände der Epoche gelungen in die Geschichte eingewoben werden. Sie bedient sich gekonnter Ausdrucksmittel, zeigt, welche Möglichkeiten mit unserer Muttersprache in der Literatur gegeben sind und bleibt dabei der zeitlichen Einordnung treu. Dabei verwendet sie neben kurzen und prägnanten Sätzen besondere Formulierungen
"Ihr Rufen konnte der Stille nichts anhaben und wurde sofort von einer dicken, dämpfenden Schicht aus Himmelblau und Sonnenwärme verschluckt, gleich nachdem sie die Lippen geöffnet hatte." (Seite 93)
"Er wusste immer weniger, woher er das Schwert nehmen sollte, mit dem er das Dickicht der Ereignisse und Gerüchte, die sich zunehmend undurchdringlicher um die Mühle rankten, zerschlagen konnte." (Seite 217)
"Zu dieser Einsicht brauchte es nicht erst die Antwort des Druckers, die dann in ihrer glasklaren Eindeutigkeit das alte Herz des Pfarrers traf wie ein scharfes Messer." (Seite 228)
und biblische Gleichnisse,
"Sie konnte das Verlies ebenso wenig verlassen wie Daniel seine Löwengrube oder Joseph den Brunnen, in den ihn seine Brüder hinabgeworfen hatten. Die Finsternis war ägyptisch". (Seite 113)
"Seine Augen funkelten vor Zorn. Es schlugen schwefelgelbe Feuerflammen wie Blitze aus ihnen heraus." (Seite 235).
die das Geschehen atmosphärisch verdichten.
Antonie Magen vermittelt uns auch Gefühle ihrer Protagonisten. Allerdings bleibt sie hier hinter ihren Möglichkeiten zurück. Zwar wird die Unsicherheit von Irene spürbar, nachdem sie den getöteten Buchhändler an der Mühle, in der es spuken soll, entdeckt hat und sich im Kerker in völliger Dunkelheit wiederfindet, und die Situation ist nicht nur für sie beängstigend. Gleichfalls nimmt man die Bedrohung durch Folter als die eigene Hilflosigkeit war. Jedoch dadurch, dass Irene sich in Gefangenschaft befindet, rückt sie aus dem Mittelpunkt des Geschehens, und Friedrich wird einmal mehr Hauptperson. Er ist ein sogenannter Kopfmensch, und man entwickelt auf Grund seiner zur Schau gestellten geistigen Überlegenheit nicht sofort Sympathie für ihn. Denn er redet gern und viel, und ebenso an seinen Gedankengängen lässt er uns ausführlich teilhaben. Da hätte es das ein oder andere Mal etwas weniger sein können, um mehr Platz den Empfindungen, insbesondere auch zwischen Irene und Friedrich einzuräumen.
Die Charakterisierung des bösartigen Parts der Protagonisten ist durchweg gut. Von Anbeginn baut sich Abneigung auf, die sich bis zum - zugegeben - nicht überraschenden Ende hält. Hier liegt jedoch ein weiteres kleines Manko des Romans. Der Schlussteil ist nicht ausgewogen. Das letztendliche Geschehen entwickelt sich rasant und kommt zu gerafft daher. Der Verbleib einer Person wird beispielsweise lediglich in einem Satz abgehandelt. Da wären ein paar Seiten mehr für den Roman von Vorteil gewesen.
Alles in Allem verabschiede ich mich von Irene und Friedrich mit leichtem Wehmut, ihre emotionale Entwicklung zu beobachten, wäre mir eine Freude. Und dann würde ich auch gern dem reitenden Boten Georg Drach wiederbegegnen, einer der interessantesten Figuren des Romans. Er ist ein einfacher, weniger gebildeter Mann und wagt es, der Rhetorik und dem geschulten Wissen eines Junkers zu Trostberg Paroli zu bieten. Er ist ehrlich und geradlinig, kann ironisch und schlagfertig sein
"Ihr seid wohl auch einer von denen, unter denen permanent der Boden schwankt, weil sie sich einbilden, dass sich die Erde dreht. Nach allem, was man hört, ist dieser Irrglaube vor allem in Italien weit verbreitet. - Na, wohl bekomme es. Seht nur zu, dass Ihr dabei nicht eines Tages auf dem Kopf steht oder Euch im Erdinneren wiederfindet, wo Euch dann getrost der Teufel holen mag." (Seite 78)
und lässt ein charakterliches Potential erkennen, das es sich auszubauen lohnt...
Für das Debüt von Antonie Magen vergebe ich 3,5 Sterne.