Herbst 1913. Es ist das letzte Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, der "Urkatastrophe Europas". Während auf dem Balkan zwei Kriege um das Erbe des zerfallenden Osmanischen Reiches toben, die erahnen lassen, welche Schrecken eine Auseinandersetzung mit Waffengewalt birgt, verbringt das übrige (westliche) Europa eine vermeintlich unbeschwerte Zeit in stabiler Ordnung. Hier herrscht seit vierzig Jahren Frieden, der einen technischen Fortschritt, die Hochindustrialisierung (auch als Zweite industrielle Revolution bezeichnet) ermöglicht, der die Nationen wirtschaftlich miteinander verflechtet. Gleichzeitig konkurrieren die europäischen Großmächte um Kolonien und Weltgeltung, instrumentalisieren die Konfliktparteien auf dem Balkan für ihre jeweiligen Interessen und rüsten ihre Flotten und Armeen auf - natürlich nur für den Verteidigungsfall. Das deutsche Kaiserreich erlebt wirtschaftliche Erfolge und baut vor allem gegenüber Großbritannien als einstigem Industriepionier seine Position aus und steht im Vergleich der Industrieländer an zweiter Stelle.
Von diesem Aufschwung hat auch Johann Melzer profitiert und es als Sohn eines Lehrers im Laufe der Jahre nicht nur zu einer florierenden Tuchfabrik in der Textilstadt Augsburg, sondern zudem zu einer adligen Ehefrau, drei präsentablen Nachkommen und einer mondänen Villa samt Dienstpersonal gebracht.
Hier tritt im Herbst 1913 Marie ihre Arbeit als Küchenmädchen an. Bislang hat ihr das Schicksal übel mitgespielt, für das arme, bemitleidenswerte Waisenmädchen ist der Dienst in der Tuchvilla die letzte Chance. In der Hierarchie der Dienstboten nimmt sie die unterste Stufe ein und wird dementsprechend behandelt.
Doch die jüngste Tochter des Hauses Katharina hat einen Narren an der gleichaltrigen Marie gefressen und bietet ihr die Freundschaft an, die Marie verwundert, aber dankbar annimmt. In relativ kurzer Zeit steigt sie zur Kammerzofe auf.
Noch eine weitere Person des Melzerschen Haushaltes schenkt ihr Zuneigung: Paul. Und obwohl Marie die Gefühle erwidert, weiß sie dennoch, dass sie als Paar keine Zukunft haben. Denn wenn eine Bedienstete sich in den jungen Herrn verliebt, kann daraus nur Unglück erwachsen.
Bald stellt sich heraus, dass Maries Herkunft nicht so unklar und rätselhaft ist, wie man es ihr im Waisenhaus darstellte. Darüber hinaus scheint ihr neuer Arbeitgeber, Johann Melzer, mehr darüber zu wissen, als er preiszugeben bereit ist. Deshalb lässt sich Marie auch von ihm nicht abbringen, Nachforschungen anzustellen, um das Geheimnis zu lüften, während in der Zwischenzeit Katharina mit einem Franzosen davonläuft...
In ihrem Roman "Die Tuchvilla" erzählt Anne Jakobs eine Familien- und Liebesgeschichte, ohne konkret Bezug auf die historischen Gesichtspunkte der Vorkriegsjahre zu nehmen. Im Grunde stellt sie ein Stück heile Welt dar, in der sich das Leben einer Familie gestaltet, die es zu Ansehen und Vermögen gebracht hat. Denn tatsächlich ist es vermutlich für Familie Melzer nicht von großer Bedeutung, was außerhalb ihres Kosmos' geschieht. Leider führt die geringe oder fehlende Einbeziehung geschichtlicher Gegebenheiten dazu, dass die Handlung zeitlich austauschbar ist. Sie hätte so zu jeder anderen Epoche an jedem anderen Ort spielen können.
Ansätze sind durchaus vorhanden. Beispielsweise erhält der Leser eine Beschreibung des Arbeitsgeschehens in der Fabrik, in dem Funktionsweise von Maschinen usw. dargestellt werden. Und Unfälle und Arbeitskampf werden ebenfalls thematisiert. Hingegen wird das hierin liegende Konfliktpotenzial bedauerlicherweise nicht ausgeschöpft. Letzten Endes löst sich alles in Wohlgefallen auf.
Der Schreibstil der Autorin stellt keine große Anforderungen. Er ist einfach und solide. Einigen sehr ausführlichen Schilderungen hätte eine Straffung gut getan. Außerdem ist das Geheimnis um Maries Herkunft recht früh zu erkennen, so dass der Leser der Lösung nicht wirklich entgegenfiebert. Insgesamt fehlt es an aufregenden Momenten, die wahrlich berühren und Herzklopfen bescheren.
In der Figurenzeichnung gibt es gute Ansätze, allerdings auch Klischees.
Marie ist ein Mensch, den der Leser sofort ins Herz schließen kann. Weil sie trotz des Übels, das ihr widerfahren ist, immer Haltung bewahrt, nicht herumjammert, sich nicht einschüchtern lässt und klein beigibt. Sie beobachtet ihre Umgebung und die Menschen intensiv und versucht, eine Wertung vorzunehmen. Sie lässt sich als Mensch nicht erniedrigen, schafft es, ihre Würde zu bewahren und sei es nur im Kampf um die Beibehaltung ihres Vornamens.
Zudem beweist sie außerordentliches Talent beim Zeichnen und ist äußerst geschickt mit der Nadel, was alle Damen der Tuchvilla für sich zu nutzen wissen.
Doch bei allen positiven Eigenschaften hätte es zu Marie mit den wunderschönen Augen, in denen ihre Seele liegt und so viel Trauer und Sehnsucht, so viel Hunger nach Glück, so viel Müdigkeit und so viel Kraft gepasst, auch die eine Ecke oder Kante zu bekommen, um sie von der armen, standhaften und untadeligen Waise zu einer interessanten Figur zu formen, so dass sie eben nicht fehlerlos gewesen wäre.
Bei Paul Melzer ist eine Entwicklung zu erkennen. Zunächst kann er es seinem Vater nicht recht machen. Wiederum bewahrheitet sich im Verlauf der Handlung, dass Paul durchaus Fähigkeiten besitzt, die ihm sein Vater bislang überhaupt nicht zugetraut hat.
Daneben wirken die Schwestern Melzer sehr stereotyp: Elisabeth, unscheinbar und pummelig ist zwar äußerst intelligent, gleichwohl aber intrigant, neidisch und gehässig. Ständig fühlt sie sich im Vergleich zur jüngeren, hübschen, weltfremden Katharina abgewertet. Der durchschimmernden Unsicherheit mehr Raum zu geben, wäre eine Abwechslung gewesen. Oder möglicherweise die Einbeziehung der Tatsache, dass sich gerade in dieser Zeit das Frauenbild verändert. So bleibt es dabei, dass Elisabeth der Euphorie und verklärten Schwärmerei ihrer Schwester nichts entgegenzusetzen hat. Selbst dann nicht, als Katharina diejenige ist, die sorglos und ohne Rücksicht auf andere Menschen handelt, kann sie nicht punkten.
Insgesamt unterhält der Roman, ohne große Anforderungen zu stellen, und wartet zu guter Letzt mit einem zuckrigen Happy End auf. Es bleibt zu wünschen, dass die Autorin diesen Pfad im zu erwartenden Folgeband verlässt und Dramatik in die Geschichte bringt.
Von diesem Aufschwung hat auch Johann Melzer profitiert und es als Sohn eines Lehrers im Laufe der Jahre nicht nur zu einer florierenden Tuchfabrik in der Textilstadt Augsburg, sondern zudem zu einer adligen Ehefrau, drei präsentablen Nachkommen und einer mondänen Villa samt Dienstpersonal gebracht.
Hier tritt im Herbst 1913 Marie ihre Arbeit als Küchenmädchen an. Bislang hat ihr das Schicksal übel mitgespielt, für das arme, bemitleidenswerte Waisenmädchen ist der Dienst in der Tuchvilla die letzte Chance. In der Hierarchie der Dienstboten nimmt sie die unterste Stufe ein und wird dementsprechend behandelt.
Doch die jüngste Tochter des Hauses Katharina hat einen Narren an der gleichaltrigen Marie gefressen und bietet ihr die Freundschaft an, die Marie verwundert, aber dankbar annimmt. In relativ kurzer Zeit steigt sie zur Kammerzofe auf.
Noch eine weitere Person des Melzerschen Haushaltes schenkt ihr Zuneigung: Paul. Und obwohl Marie die Gefühle erwidert, weiß sie dennoch, dass sie als Paar keine Zukunft haben. Denn wenn eine Bedienstete sich in den jungen Herrn verliebt, kann daraus nur Unglück erwachsen.
Bald stellt sich heraus, dass Maries Herkunft nicht so unklar und rätselhaft ist, wie man es ihr im Waisenhaus darstellte. Darüber hinaus scheint ihr neuer Arbeitgeber, Johann Melzer, mehr darüber zu wissen, als er preiszugeben bereit ist. Deshalb lässt sich Marie auch von ihm nicht abbringen, Nachforschungen anzustellen, um das Geheimnis zu lüften, während in der Zwischenzeit Katharina mit einem Franzosen davonläuft...
In ihrem Roman "Die Tuchvilla" erzählt Anne Jakobs eine Familien- und Liebesgeschichte, ohne konkret Bezug auf die historischen Gesichtspunkte der Vorkriegsjahre zu nehmen. Im Grunde stellt sie ein Stück heile Welt dar, in der sich das Leben einer Familie gestaltet, die es zu Ansehen und Vermögen gebracht hat. Denn tatsächlich ist es vermutlich für Familie Melzer nicht von großer Bedeutung, was außerhalb ihres Kosmos' geschieht. Leider führt die geringe oder fehlende Einbeziehung geschichtlicher Gegebenheiten dazu, dass die Handlung zeitlich austauschbar ist. Sie hätte so zu jeder anderen Epoche an jedem anderen Ort spielen können.
Ansätze sind durchaus vorhanden. Beispielsweise erhält der Leser eine Beschreibung des Arbeitsgeschehens in der Fabrik, in dem Funktionsweise von Maschinen usw. dargestellt werden. Und Unfälle und Arbeitskampf werden ebenfalls thematisiert. Hingegen wird das hierin liegende Konfliktpotenzial bedauerlicherweise nicht ausgeschöpft. Letzten Endes löst sich alles in Wohlgefallen auf.
Der Schreibstil der Autorin stellt keine große Anforderungen. Er ist einfach und solide. Einigen sehr ausführlichen Schilderungen hätte eine Straffung gut getan. Außerdem ist das Geheimnis um Maries Herkunft recht früh zu erkennen, so dass der Leser der Lösung nicht wirklich entgegenfiebert. Insgesamt fehlt es an aufregenden Momenten, die wahrlich berühren und Herzklopfen bescheren.
In der Figurenzeichnung gibt es gute Ansätze, allerdings auch Klischees.
Marie ist ein Mensch, den der Leser sofort ins Herz schließen kann. Weil sie trotz des Übels, das ihr widerfahren ist, immer Haltung bewahrt, nicht herumjammert, sich nicht einschüchtern lässt und klein beigibt. Sie beobachtet ihre Umgebung und die Menschen intensiv und versucht, eine Wertung vorzunehmen. Sie lässt sich als Mensch nicht erniedrigen, schafft es, ihre Würde zu bewahren und sei es nur im Kampf um die Beibehaltung ihres Vornamens.
Zudem beweist sie außerordentliches Talent beim Zeichnen und ist äußerst geschickt mit der Nadel, was alle Damen der Tuchvilla für sich zu nutzen wissen.
Doch bei allen positiven Eigenschaften hätte es zu Marie mit den wunderschönen Augen, in denen ihre Seele liegt und so viel Trauer und Sehnsucht, so viel Hunger nach Glück, so viel Müdigkeit und so viel Kraft gepasst, auch die eine Ecke oder Kante zu bekommen, um sie von der armen, standhaften und untadeligen Waise zu einer interessanten Figur zu formen, so dass sie eben nicht fehlerlos gewesen wäre.
Bei Paul Melzer ist eine Entwicklung zu erkennen. Zunächst kann er es seinem Vater nicht recht machen. Wiederum bewahrheitet sich im Verlauf der Handlung, dass Paul durchaus Fähigkeiten besitzt, die ihm sein Vater bislang überhaupt nicht zugetraut hat.
Daneben wirken die Schwestern Melzer sehr stereotyp: Elisabeth, unscheinbar und pummelig ist zwar äußerst intelligent, gleichwohl aber intrigant, neidisch und gehässig. Ständig fühlt sie sich im Vergleich zur jüngeren, hübschen, weltfremden Katharina abgewertet. Der durchschimmernden Unsicherheit mehr Raum zu geben, wäre eine Abwechslung gewesen. Oder möglicherweise die Einbeziehung der Tatsache, dass sich gerade in dieser Zeit das Frauenbild verändert. So bleibt es dabei, dass Elisabeth der Euphorie und verklärten Schwärmerei ihrer Schwester nichts entgegenzusetzen hat. Selbst dann nicht, als Katharina diejenige ist, die sorglos und ohne Rücksicht auf andere Menschen handelt, kann sie nicht punkten.
Insgesamt unterhält der Roman, ohne große Anforderungen zu stellen, und wartet zu guter Letzt mit einem zuckrigen Happy End auf. Es bleibt zu wünschen, dass die Autorin diesen Pfad im zu erwartenden Folgeband verlässt und Dramatik in die Geschichte bringt.
Liebe Anke,
AntwortenLöschenes ist schön, wie du immer gut über die Bücher informierst.
Dann kann man leichter die Auswahl treffen.
Sonnige Grüße
Elisabeth
Liebe Anke,
AntwortenLöschendanke für diese ausführliche Buchbesprechung. Ich bin neugierig
geworden - und das soll ja der Sinn dieser Arbeit sein.
Danke!
Liebe Grüße schickt Dir
Irmi
Liebe Anke,
AntwortenLöschenha - das Buch steht auf meinem Bücherschrank - lange schon und ungelesen.
Gut, dass du mich daran erinnert hast via deiner tollen Rezension.
Da werde ich also mal das Händchen danach ausstrecken ...
Liebe Grüße von Gisa.