Mit ihrem Roman „Kein anderes Meer“ nimmt Edwidge Danticat uns mit auf eine Reise
in ihre Heimat Haiti und lässt uns nicht nur teilhaben an haitischem Dasein und
haitischer Kultur, sondern bietet einen tiefgründigen Einblick
in das Leben der Menschen. Die von ihr geschaffenen Charaktere geben in ihrer
Vielfalt ein Bild der fiktiven Stadt zwischen Meer und Bergen wider: Ville Rose – ein Name wie Musik, und doch
befindet er sich im krassen Gegensatz zu seinen Bewohnern, die aus einer kleinen
Minderheit von Mittel- und Oberschicht sowie der großen Bevölkerung unterhalb
der Armutsgrenze bestehen, die um das tägliche Überleben kämpfen. Ein Ort
unermesslicher Schönheit und außerordentlichen Elends.
Im Mittelpunkt steht auf den ersten Blick Claire Limyè Lanmè, was Claire vom Meereslicht heißt - "Claire of the Sea Light" ist der Originaltitel des Romans. Er
beginnt mit Claires siebtem Geburtstag. An diesem Tag versenkt eine drei oder
vier hohe Monsterwelle den Fischer Caleb mitsamt seinem Kutter. Claire
lebt mit ihrem Vater Nozias, ebenfalls Fischer, in einer winzigen Hütte. Ihre
Mutter ist bei ihrer Geburt gestorben, und so sind ihre Geburtstage jedes Jahr
nicht nur glückliche Tage, sondern auch immer solche der Trauer. Die ersten drei
Jahre wird Claire von Verwandten ihrer Mutter großgezogen. Dann holt Nozias seine Tochter wieder zu
sich, um sich selbst der Herausforderung zu stellen, sein Kind von seinem
dürftigen Einkommen zu versorgen. Und obwohl es ihm nicht an elterlicher Liebe
oder Verantwortung und gutem Willen fehlt, erkennt er die Hoffnungslosigkeit
seines Unterfangens, Claire eine sorgenfreie Existenz bieten zu können. Aus diesem
Grund entscheidet er sich, Gaëlle, die Besitzerin des Stoffladens, zu überzeugen, Claire zu
adoptieren. Denn aus seiner Sicht ist es das Beste, ein neues Elternteil zu
finden, dem er vertraut, sich um Claire zu kümmern. Er selbst will auf der
Suche nach einer besser bezahlten Arbeit fortgehen.
An diesem siebten Geburtstag stimmt Gaëlle zu, Claire zu sich zu nehmen; am
Abend verschwindet Claire, und erst im letzten Kapitel erfahren wir, was
mit ihr passiert. Bis dahin porträtiert die Autorin andere Bewohner der Stadt, und im Verlaufe dessen wird deutlich, dass im Grunde Ville Rose in ihrer
menschlichen Vielfalt, brutalen Realität und miteinander kollidierenden
Schicksalen die eigentliche Protagonistin des Romans darstellt.
Da ist die Stoffhändlerin Gaëlle, die als Spiegel für Nozias wirkt.
Auch ihr Leben ist von Verlusten geprägt. Am Tag, an dem sie ihre Tochter Rose
auf die Welt bringt, wird ihr Mann Laurent ermordet. Sieben Jahre später – es
ist der vierte Geburtstag von Claire – stirbt Rose bei einem Autounfall.
Bernhard Dorien, der in Cité Pendue, einem armen,
gefährlichen Außenbezirk von Ville Rose, dem „ersten Höllenkreis“, zu Hause ist und
dessen Idealismus und die Verbindung zu Tiye, dem berüchtigten Anführer der Bande Baz
Benin, schreckliche Konsequenzen für sein Leben und das von Gaëlle haben.
Bernards enger Freund Max Ardin Junior, ein wohlhabender junger Mann, der vor
zehn Jahren ein Kind zeugte, von seinem Vater Max Senior nach
Miami geschickt wurde, nun nach Haiti zurückkehrt und mit seiner Schuld
konfrontiert wird.
Louise George, eine bekannte und beliebte Radiomoderatorin, Lehrerin von
Claire in der Schule von Max Ardin Senior und zeitweise desssen Geliebte, mit
dem sie eine Rechnung offen hat. Sie ermöglicht es Bürgern von Ville Rose, in ihrer populären
Radiosendung die eigene Geschichte zu schildern...
Edwidge Danticats Protagonisten sind fehlerhaft, aber menschlich, handeln
auf einem schmalen Grad zwischen richtig und falsch. Während Nozias sich beispielsweise gezwungen sieht, seine Tochter
aufzugeben, obwohl er sie eigentlich nicht verlieren möchte, muss Claire als
Vertreterin vieler Kinder mit der Entscheidung leben, die andere Menschen für
ihre Zukunft treffen.
Durch die verschiedenen Geschichten zeigt die Autorin eine
Stadt, die von Gewalt, Leid und Tod, Korruption, Klassenunterschieden und
sozialen Tabus geprägt ist, in der es jedoch durchaus auch Hoffnung, Träume, Liebe und Versöhnung
und gute Absichten gibt.
Insgesamt ist der Tod - einerlei, ob er natürlichen, zufälligen oder kriminellen Ursprungs ist - in Ville Rose
eine konstante und alltägliche Größe. Er taucht immer wieder in den Geschichten auf und
verknüpft sie zum Teil miteinander. Leben und Tod stehen sich
kontinuierlich gegenüber, wodurch die Autorin gleichzeitig die Fragilität des Lebens im Angesicht des Todes hervorhebt.
Danticats Roman ist geprägt von einem ruhigen
Erzähltempo, ihre Sprache zeigt sich schnörkellos und klar, gleichwohl
kraftvoll, poetisch und von enormer Tiefe. Sie verwendet sie, um komplizierte
Verbindungen zu knüpfen, wenn sie sowohl Schönheit als auch Schrecken beschreibt.
Die Einflechtung kreolischer Redewendungen und Worte schaffen den Reiz einer
fremden Welt, erschweren allerdings zugleich das eine oder andere Mal das
Lesen und Verständnis.
In ihrer Weise des Erzählens
fordert uns die Autorin. Es erfolgt keine chronologische Abfolge.
Vielmehr bewegt sich die Handlung von der Gegenwart bis zur nahen
Vergangenheit, geht in die ferne Vergangenheit, um wieder in die Gegenwart
zurückzukehren. So beginnt und endet die Geschichte mit Claires Geburtstag und damit nicht nur dem
Todestag ihrer Mutter.
Am Schluss ihres eindrucksvollen und komplexen Romans erlaubt die Autorin ein wenig Zuversicht, unsicher zwar, aber vorhanden. Und daran möchten wir festhalten.
4,5 Sterne
Erschienen ist das Taschenbuch im Aufbau Verlag. Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.
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