Ich grüße dich, Claire, und freue mich, dass du dir anlässlich des Erscheinens deines neuen Buches Zeit für ein Interview genommen hast. Lass uns sofort starten:
In "Kinder des Aufbruchs" dürfen wir nach "Kinder ihrer Zeit" erneut die Zwillinge Emma und Alice und ihre Familien begleiten. Was war deine besondere Motivation für eine Fortsetzung der Geschichte?
Als ich an den letzten Kapiteln von „Kinder ihrer Zeit“ schrieb, hatte ich das Gefühl, dass die Geschichte von Emma und Alice, aber auch der beiden Männer Julius und Max, noch nicht an ihrem Ende angekommen war und es noch mehr über sie zu erzählen gab. Als der Roman herauskam, habe ich dann im Internet eine Leserunde in einem Buchforum als Autorin begleitet und angeregt durch die Fragen und Spekulationen der Teilnehmerinnen, wie sich wohl das Leben der beiden Schwestern nach den dramatischen Ereignissen, die hinter ihnen lagen, weiter entwickeln würde, entstand so die Idee von „Kinder des Aufbruchs“.
Wie gestaltete sich deine Recherche? War es schwierig, an Material und Hintergrundinformationen zu gelangen?
Ich recherchiere für meine Bücher immer sehr lange und intensiv. Ich lese erst mal sehr viel – wissenschaftliche Literatur, aber auch Biografien, Briefwechsel oder Zeitungsartikel aus der Zeit, ich schaue mir aber auch Fotos oder Filmaufnahmen an und besonders wichtig sind für mich Zeitzeugeninterviews. Für mich ist es beim Schreiben stets von Bedeutung zu verstehen, wie sich eine Zeit für die Menschen damals angefühlt hat. Dann gehe ich aber auch in Ausstellungen. Für diesen Roman war ich zum Beispiel noch einmal im Stasi-Museum in Berlin, und ich habe außerdem auch eine unterirdische Führung der Berliner Unterwelten e.V. gemacht. Das war wahnsinnig spannend. Mir macht die Recherche sehr viel Spaß, weil ich es jedes Mal wieder faszinierend finde, in eine vergangene Epoche einzutauchen. Manchmal sind Hintergrundinformationen dabei ganz leicht zu entdecken, manchmal muss ich auch etwas länger suchen. Diese Arbeit hat auch immer etwas von einer Detektivarbeit. Seltsamerweise ist es dabei oft am schwierigsten, die banalen Dinge des Alltags in Erfahrung zu bringen.
In diesem Zusammenhang möchte ich dich zitieren: "Die junge Generation begehrte mit aller Macht gegen die autoritären
Hierarchien und die Moralvorstellungen der Eltern auf, forderte mehr
Freiheit und ging auf die Straße, um für politische Gerechtigkeit zu
kämpfen." - Mich persönlich hat das Vorgehen der Polizei gegen die Demonstrationen sehr erschüttert, und es lässt sich meiner Meinung nach auch nicht mit den demokratischen Grundsätzen vereinbaren. Geht es dir ebenso? Warum denkst du hatte der Staat damals solche "Angst" vor seiner eigenen jungen Bevölkerung?
Ja, mich hat die Gewalt, mit der die Polizei damals vorgegangen ist, zum Teil wirklich schockiert. Ich habe mir ja auch viele Filmaufnahmen aus dieser Zeit angeschaut. Das war natürlich nicht demokratisch, was damals geschehen ist! Die Gründe für dieses brutale Vorgehen sind, glaube ich, sehr vielschichtig. Erstmal erschien natürlich alles, was politisch links war, in dieser Zeit verdächtig und gefährlich. Die Welt befand sich mitten im Kalten Krieg und das war wahrscheinlich nirgends so spürbar wie in Westberlin. Die Polizei dort war paramilitärisch geschult, damit sie im Notfall auch zur Unterstützung des Militärs gegen den kommunistischen Feind eingesetzt werden konnte. Viele Stellen waren darüber hinaus noch mit Beamten besetzt, die eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten - oder zumindest von dieser Zeit und ihren Autoritätsbegriffen stark geprägt waren. Was ganz allgemein auf die ältere Generation zutraf. Diese Polizei traf nun auf eine neue junge Generation, die das westlich-kapitalistische System hinterfragte, die den Einsatz der verbündeten Amerikaner in Vietnam kritisierte und völlig andere Werte vertrat, was sich auch in ihrer äußeren Erscheinung dokumentierte. Da waren Auseinandersetzungen vorprogrammiert und die Polizei bediente sich althergebrachter Methoden, die viele Politiker, aber auch Teile der Bevölkerung leider durchaus guthießen.
Ich gehe davon aus, dass du ein klares Konzept für Handlungsstränge und die Personenführung hattest. Ist es dir gelungen, dieses einzuhalten, oder gab es während des Schreibens Abweichungen?
Ich erarbeite immer ein sehr ausführliches Exposé, in dem die Handlung und auch die Entwicklung der Charaktere schon sehr genau festgehalten sind, bevor ich anfange zu schreiben, aber bei der Arbeit am Roman verändert sich dann noch mal einiges. Manchmal stimmen zum Beispiel die Zeitabläufe nicht, weil sie im Exposé noch zu ungenau umrissen waren oder die Figuren entwickeln auf einmal eine Eigendynamik und beanspruchen einen anderen Platz in der Geschichte. Das ist aber etwas, dass ich sehr am Schreiben mag, dass sich eben nicht alles vorher festlegen lässt, sondern sich in einem ständigen kreativen Prozess befindet.
Bei der Lektüre des Romans habe ich die Schilderung der vielen Details geschätzt, so dass es auch Ortsfremden gelungen sein dürfte, auf diese Weise nach Berlin zu reisen und sich in die örtlichen Gegebenheiten vor Ort
hineinzuversetzen. Hattest du beispielsweise die Chance, einen Teil des Tunnelssystems zu erkunden, um bei deiner Darstellung glaubhaft zu sein?
Ja, ich hatte wie oben erwähnt u.a. auch eine unterirdische Führung bei der Berliner Unterwelten e.V. gemacht, bei der man auch ein Stück Tunnel besichtigen konnte. Die Führung wurde von einem Zeitzeugen gemacht, der selbst geflohen war. Das war sehr eindrucksvoll und hat mir ein Gefühl für die Atmosphäre gegeben. Es hat schon etwas Unheimliches dort unten unterwegs zu sein. Aber es gibt allgemein natürlich auch sehr viel Literatur zu diesem Thema.
Die Gestaltung und Entwicklung der Figuren ist ein wesentlicher Bestandteil eines Romans. Ist es für dich wichtig, dass deine Leser mit den Protagonisten mitfühlen können und/oder Entscheidungen von ihnen mittragen? Gibt es in "Kinder des Aufbruchs" Personen, die du sehr gemocht oder bei deren Ausarbeitung du dir die "Haare gerauft" hast, weil sie schwierig waren oder gar ein Eigenleben entwickelten?
Ja, das ist für mich auf jeden Fall wichtig. Ich wünsche mir, dass meine Leser und Leserinnen in die Gedankenwelt meiner Figuren eintauchen und verstehen, woher sie kommen, was ihr Handeln vorantreibt, und ihre Gefühlswelt bestimmt. Und das auch bei den weniger sympathischen Charakteren. Dass sie deren Entscheidungen immer mittragen müssen, würde ich allerdings nicht erwarten. Für mich selbst sind dabei Figuren wie der Stasi-Offizier Saalfeld oder ein Agent wie Golo beim Schreiben ein bisschen ambivalent. Aus ihrer Perspektive zu erzählen ist manchmal zwar eine Herausforderung, aber die Auseinandersetzung mit solchen Charakteren ist gleichzeitig auch sehr spannend. Ich mag sie vielleicht nicht, aber aus ihrer Perspektive ist ihr Verhalten ja durchaus logisch und konsequent.
Zu guter Letzt sei mir die Frage gestattet, ob du bereits eine Idee für eine neue Geschichte hast und uns dazu etwas verraten magst? Wie sieht dein Schreiballtag aus, und was macht dir dabei vor allem Freunde. Und wie gelingt es dir, Momente der Schreibunlust zu überwinden?
Ich habe gerade erst angefangen für einen neuen Stoff zu recherchieren. Insofern ist es noch etwas früh, aber ich kann so viel verraten, dass der nächste Roman in den vierziger und fünfziger Jahren spielen soll. Was meinen Schreiballtag angeht – er ähnelt einem normalen Arbeitstag. Ich bin allerdings bedingt durch den Beruf meines Mannes viel auf Reisen, was für mich immer eine großartige Inspiration ist. Mein Schreib-und Arbeitstisch befindet sich deshalb oft in wechselnder Umgebung. An meiner Arbeit macht mir eigentlich fast alles Spaß. Ich liebe das Schreiben und bin sehr dankbar, dass ich es zu meinem Beruf machen konnte. Nur das viele Sitzen mag ich nicht so sehr. Wenn ich das Gefühl habe, mit dem Text nicht weiterzukommen - es gibt beim Schreiben ja diese Momente, in denen man einen Satz oder Absatz zigmal ändert und er einfach nicht stimmen will - dann gehe ich deshalb auch raus, um mich zu bewegen oder Sport zu treiben. Das hilft glücklicherweise fast immer.
Liebe Claire, nochmals Danke schön für die Beantwortung der Fragen.
Sechs Jahre nach dem Mauerbau lernt die erfolgreiche Dolmetscherin Emma in West-Berlin die aus dem Ostteil der Stadt geflohene Sängerin Irma Assmann kennen. Als sie ihrer Zwillingsschwester Alice davon erzählt, reagiert diese beunruhigt. Alice schreibt als Journalistin über die Studentenbewegung und steht in Kontakt mit verschiedenen Fluchthilfe-Organisationen. Ist Irma mit ihren ehemaligen Beziehungen zum KGB als Informantin im Westen? Oder sind die Schwestern und deren Männer Julius und Max durch ihre Verbindungen zur DDR zu Zielscheiben geworden? Kurz darauf wird die Sängerin ermordet, und die vier geraten inmitten der Studentenunruhen zwischen die Fronten der Geheimdienste. (Quelle: Verlag)
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Erschienen ist der Roman im Diana Verlag. Ich danke Corinna Schindler Pressebüro für die Vermittlung.
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