Es herrscht ein ordentliches Getümmel in Nürnberg im April
1449. An diesem Tag der Heiltumsweisung strömen Hunderte aus dem ganzen Umland
in die Stadt, um einen Blick auf Insignien und Reliquien wie die Heilige Lanze,
die Reichskrone oder das Krönungszepter zu werfen.
Mitten unter den Menschen ist auch Anna, die als Dirne
arbeiten muss. Vor drei Jahren wurde ihr Dasein vollständig auf den Kopf
gestellt, als ihre Brüder sie aus der lieb gewonnenen, sicheren Geborgenheit eines
Klosters gerissen und an ein Frauenhaus verkauft haben. Seitdem bietet sie dem
Schicksal die Stirn und kämpft ums Überleben.
Endres ist zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder in
Nürnberg, und alles wirkt dort für ihn vertraut und zugleich fremd. Im geheimen
Auftrag seines Herrn, dem Markgraf Albrecht von Ansbach, der im Streit mit der
Reichsstadt liegt, führt sein Weg ihn in das Hurenhaus, in dem Anna arbeitet. Der
jungen Frau wird schnell klar, dass Endres anders ist als die Männer, die sie
sonst aufsuchen, denn er bedient sich ihrer nicht, sondern achtet sie als
Person.
Zwischen beiden entstehen erste zarte Bande. Doch die
Reichsstadt rüstet zum Krieg gegen den Ansbacher Markgraf, und Endres
balanciert als dessen Spion auf schmalem Grat. Und Anna bleibt vom Unglück noch
immer nicht verschont ...
„Das gelbe Tuch“ von Priska Lo Cascio ist ein historischer
Roman nach meinem Geschmack. Die Autorin beweist bei der ausführlichen Schilderung
der Ereignisse vor der Kulisse des mittelalterlichen Nürnberg nicht nur ein
fundiertes Hintergrundwissen, sondern sie setzt ihre erdachte Geschichte
hervorragend in den historischen Kontext.
In einem Nachwort bringt die Autorin Licht in Dunkel von
Wahrheit und Erfindung. Ein Personenregister lässt einen die handelnden Figuren im
Auge behalten, während das Glossar notwendige Begriffe erläutert.
Priska Lo Cascio greift auf ein ausgezeichnetes
sprachliches Können zurück und stellt die in großen Teilen schweren und
schwierigen Lebensverhältnisse der Menschen am Rande der Gesellschaft detailliert
und in eindringlicher Intensität dar.
Mitreißend erzählt ziehen einen das Schicksal und die
äußeren und inneren Kämpfe der Protagonisten in einem dramatischen und
emotionalen Spannungsbogen in seinen Bann, wenn die Autorin das damalige tatsächliche
Geschehen und die einst existierende Persönlichkeiten mit fiktiven Figuren verknüpft.
Gerade mit diesen von ihr entworfenen Charakteren
überzeugt sie auf ganzer Linie.
Anna, die von vielen wegen ihrer zweifarbigen
„Teufelsaugen“ – eines in dunklem Kohlebraun, das andere so hell wie das Kraut
der Silberminze – abgelehnt oder sogar gefürchtet wird, hat mich gleich für
sich eingenommen, und ich habe mehr als einmal mit ihr gelitten. Sie hat mich
beeindruckt mit ihrem Willen und ihrer Kraft, die beide im Verlauf des Geschehens
wachsen, aber auch mit ihrer Wissbegierde und Klugheit.
Endres, privilegierter Sohn aus gutem Hause, hat sich von
seiner Familie abgewandt, nachdem er in Konflikt mit seinem Vater geraten ist.
Lediglich mit seinem Bruder Ulman verbindet ihn Zuneigung. Er ist auf Grund seiner Vergangenheit kein einfacher Mann, jedoch einer, dessen unaufdringliche,
manchmal sogar distanzierte Art bei Anna mehr Gutes bewirkt, als sie seit
Langem von irgendjemandem erfahren hat.
„Das gelbe Tuch“ bietet einen Rahmen für eine Geschichte, in
der Liebe und Freundschaft, Mut und Hoffnung, Vertrauen und Hilfsbereitschaft von
großer Bedeutung und Wertigkeit sind.