„Es war das Licht, die Art, wie es stach und brannte und an ihm
zerrte. Es legte sich über die Wälder und Seen wie eine Aufforderung weiterzuatmen,
wie ein Versprechen auf ein neues Leben. Das Licht füllte seine Adern mit
Unruhe und raubte ihm den Schlaf.“ (Seite 9)
In einem abgelegenen Teil Nordschwedens verschwand vor drei Jahren
Lina, die Tochter des Lehrers Lelle. Mit diesem Verlust kann sich Lelle im
Gegensatz zu seiner Frau Anette nicht abfinden. Inzwischen ist seine Ehe zerbrochen.
Lelle hadert mit Schuldgefühle, zieht sich von den Menschen zurück und fährt, statt
soziale Kontakte zu pflegen, einsam jeden Sommer im Licht der nicht
untergehenden Mitternachtssonne jene Straße - Silvervägen - entlang, wo er Lina
an einer Haltestelle der einzigen Buslinie absetzte und sie zuletzt sah.
Meja, siebzehn und damit so alt wie Lina damals, ist ebenfalls allein. Nach langen Jahren des Umherziehens kommt sie mit
ihrer Mutter Silje, die sich bei ihrer Internetbekanntschaft Torbjörn ein sorgenfreies Heim erhofft, nach
Glimmersträsk in Norrland. Das junge Mädchen wünscht sich einen Neuanfang,
endlich ein eigenes Zimmer und einen Ort, an dem sie Zuhause sein kann, ohne
sich um ihre Mutter kümmern und vor anderen verstecken zu müssen.
Doch die Träume erfüllen sich nicht vollständig, die Sicherheit
erweist sich als trügerisch. Silje kann nicht aus ihrer Haut. Erst die
Begegnung mit Carl-Johan und seiner autark lebenden Familie auf einem Hof
mitten im Wald gibt Meja Mut, mit Optimismus vorauszuschauen, all die Sorgen
hinter sich zu lassen.
Als ein weiteres Mädchen verschwindet, reißen alte Wunden auf, und diese bringen neue Unruhe
in das Leben von Lelle und Meja, die sich im Herbst bei Schulbeginn als Lehrer
und Schülerin begegnen.
Mit ihrem Debüt „Dunkelsommer“
ist Stina Jackson ein psychologischer Spannungsroman gelungen, der zwar
Verbrechen beinhaltet, allerdings keine traditionelle Aufklärung, und der durch
seine düstere bedrückende Atmosphäre besticht. Er zieht seine Kraft aus den friedvollen einprägsamen Naturbeschreibungen und lebt von einer ruhigen poetischen
Bildsprache. Diese erzeugt eine schwermütige Stimmung, die glaubwürdig zur
Thematik passt und zu keinem Zeitpunkt enttäuscht.
„Dunkelsommer“ präsentiert
ein in seiner Dramatik unangenehmes und berührendes Geschehen, schaut in die
Abgründe des Bösen, offenbart das Gute und ist ein Wechselbad der Gefühle, angefüllt
mit Ängsten, Trauer, Hoffnung und gleichzeitig hypnotischer Dunkelheit im Lichte
des Mittsommers, die besonders im letzten Teil an Bedrohlichkeit zunimmt und durchaus Gänsehautmomente verursacht.
Nicht nur äußerlich sind die Einwohner der wenigen Orte hier im
nördlichen Lappland isoliert. Die Silvervägen erstreckt sich über viele Kilometer
durch meist menschenleere Gebiete, vorbei an beeindruckenden Landschaften,
Flüssen und Seen. Stina Jackson lässt verschiedene Lebensmodelle aufeinandertreffen,
bei ihr existieren Menschen am Rand der Gesellschaft, auch jene, die nicht
dazugehören (wollen). Die einen haben die Familie verloren, die anderen stellen die Familie bis zur Besessenheit in den
Vordergrund, und dann gibt es noch diejenigen mit Familie, aber ohne haltende Bindung.
Daneben wird die innere Vereinsamung greifbar. So bewältigt die Autorin
mühelos die Aufgabe, die Empfindungen ihrer Protagonisten mit Tiefe darzustellen
und den Leser emotional durch kleine subtile Mittel und Gesten zu erreichen.
Denn „Dunkelsommer“
profitiert hauptsächlich von seinen komplexen Charakteren, vor allem Lelle und
Meja, aus deren wechselnder Perspektive die Geschichte erzählt wird. Sie
könnten unterschiedlicher nicht sein und haben doch einiges gemeinsam.
Allein die Suche nach Lina ist das, was Lelle noch interessiert, getrieben
von einer verzweifelten Hoffnung, wenigsten eine Spur von ihr zu finden, um
abschließen zu können. Das Einzige, was er dabei entdeckt, ist seine Einsamkeit
und die Erkenntnis, wie viel es davon überall gibt. Und Lelle ist wütend. Wütend
über die Unbeholfenheit der Menschen, über ihre verängstigten und unsicheren
Blicke. Wütend darüber, dass sie nichts wissen, dass sie ihm nicht helfen können
und alle ihre Leben fortsetzen.
Auch Meja ist einsam und führt einen scheinbar aussichtslosen Kampf
gegen ihre psychisch instabile Mutter, die Tabletten und Alkohol braucht, um
den Tag zu überstehen, nur die eigenen Bedürfnisse in den Mittelpunkt ihres
Daseins stellt und wenig Gedanken an die Tochter verschwendet, zugleich jedoch alles an Verantwortung auf Meja überträgt.
Als Meja Carl-Johan kennenlernt, sich verliebt und zu ihm zieht, nimmt
seine Familie sie auf, so dass das junge Mädchen zum ersten Mal etwas wie
Zugehörigkeit empfindet. Sie akzeptiert, dass sich die Familie von den
Gesellschaft fernhält, ja diese und moderne Technik ablehnt, sich selbst
versorgt und damit beschäftigt ist, sich auf eine mögliche Katastrophe
vorzubereiten. Meja verzichtet auf ihr Mobiltelefon und verspürt endlich die
Kraft, anders zu werden als ihre Mutter. Sie will sie selbst werden. Aber es
ist fraglich, ob sie den richtigen Weg eingeschlagen hat, dies wirklich zu
erreichen.
Zwei Menschen, die auf der Suche sind, die hoffen und bangen, die jeder ein
Ziel haben. „Dunkelsommer“ sieht unter die Oberfläche und beeindruckt mit einem
Blick in das Innere…
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Erschienen ist der Roman im Goldmann Verlag, dem ich für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares danke.