Der
dreiundzwanzigjährigen Harriet Heron schnürt es im nebligen
giftigen Dunst des viktorianischen Londons im wahrsten Worte die Luft
ab. Sie leidet an Asthma und rechnet jeden Tag damit, den nächsten
nicht mehr zu erleben. Sie wird behütet und geschützt, ist
gleichwohl aber auch gefangen in diesem Kokon der Fürsorge und
getrennt von den Dingen, die eine junge Frau ihres Alters
kennenlernen sollte. Lediglich ihre seit ihrer Kindheit bestehende
Faszination für Ägypten, besonders
ihre Leidenschaft für Hieroglyphen geben ihr Halt.
Da
sie vor ihrem Tod das ägyptische Theben sehen möchte, kann sie erst
ihren Arzt und dann ihre Mutter Louisa davon überzeugen, dass ihr
das Klima in Ägypten besser bekommt. Mit auf die Reise geht als Dritte im Bunde der Damen die
unverheiratete, gottesfürchtige (Tante) Yael, Louisas Schwägerin,
nicht minder naiv in ihrem Glauben und ohne Kenntnis, was sie im
unbekannten Land erwartet.
Schon auf dem Schiff begegnen sie unterschiedlichen Menschen: dem Ehepaar Cox,
das seine Hochzeitsreise macht, dem Maler Eyre Soane, den eine längst
begraben geglaubte Vergangenheit mit Louisa zu verbinden scheint, dem
deutschen Professor Eberhardt Wolf, der einen Flügel nach Ägypten
transportiert.
Endlich
in Alexandria angekommen, kann Harriet angesichts der sauberen Luft
zunächst aufatmen. Yael, die bislang ihren Vater gepflegt oder
„gefallene“ Mädchen betreut hat, findet einen neuen
Lebenssinn.
Sie eröffnet eine Klinik, in der die Augen der ägyptischen
Kinder behandelt werden.
Doch
Louisa will zurück nach London, auch um Soane und den Erinnerungen
und Geistern ihrer Jugend, die er weckt, auszuweichen. Als in
Alexandria die Stürme beginnen, verschlechtert sich Harriets
Gesundheitszustand. Erneut
kann sie die Mutter überreden, Ägypten nicht zu verlassen, sondern
vielmehr nach Luxor weiterzureisen. Yael hingegen
will
ihre Kinderklinik nicht aufgeben und bleibt in Alexandria zurück.
In
Luxor begegnet Harriet dem mit Ausgrabungen beschäftigten Eberhardt
Wolf wieder und entdeckt in dem Ägyptologen eine verwandte Seele,
nachdem dieser begreift, dass Harriets Interesse echt und nicht bloß
das einer Touristin ist. Sie fertigt Kopien der von ihm ausgegrabenen
Hieroglyphen an und hilft, deren Bedeutung zu entschlüsseln. Auch
Soane taucht in Luxor wieder auf und interessiert sich für Harriet.
Unterdessen wächst angesichts der sozialen
Verhältnisse im Land die Unruhe in der Bevölkerung, so dass eine
Rückkehr nach England zunehmend unmöglich wird...
The Street and Mosque of the Ghoreeyah, Cairo by John Frederick Lewis
Wendy Wallace überrascht mit einer lebendigen, atmosphärisch dichten Geschichte, die von einer intensiven und sorgfältigen Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund zeugt. Sie vermag es, dem Leser die herbe, gleichwohl mystische Schönheit Ägyptens in üppigen Farben, die von Wind und Sand erfüllte Luft und die starke Hitze zu vermitteln. Während das neblige London die dunkle Seite darstellt, scheint Ägypten hell und voller Licht zu sein. Doch diese Schönheit täuscht.
Denn Ägypten ist im 19. Jahrhundert eine brutal unterdrückte Nation unter osmanischer Herrschaft, ein Land, das sich am Rande der Revolte befindet, es entwickelt sich eine wachsende nationalistische Bewegung wider die horrenden Steuern, die Sklavenarbeit und Unterdrückung, im Grunde entsteht hier der erste „arabischen Frühling“.
In
dieser Zeit gehen die drei
Frauen, ohne es zu ahnen, auf eine Reise, die eine jede von
ihnen verändert. Zunächst tragen sie das starre Korsett ihrer
Herkunft und sind geprägt vom Anstand und der Moral ihrer Zeit.
Eindrucksvoll schildert die Autorin, wie sie sich von
den Zwängen befreien, die die viktorianischen Gesellschaft vor allem
den Frauen auferlegt.
Alle Figuren wirken echt und aus dem Leben gegriffen. Ihre Gedanken,
Gefühle und Motivation sind nachvollziehbar durch Handlungen und
Aussagen dargestellt. Dabei ist der Erzählstil der Autorin sehr
ausgewogen und nie übertrieben, klar
und
sensibel und durchaus poetisch.
"Der Himmel war gigantisch. Eine silbrige Riesenschale über ihrem Kopf, an deren Rändern sich perlmuttfarbene Wolkenfinger bis an den Horizont zogen. Um sie herum glitzerte und wogte das Meer. Es wirkte gewaltig. Rein und lebendig." (Seite 50)
Die
drei im Mittelpunkt stehenden weiblichen Protagonisten Harriet, Lousia und Yael sind von ungleichem Charakter, und so reagieren sie auch
völlig unterschiedlich auf das für sie fremde exotische Land.
Yael
und
Louisa haben nichts
gemein. Während
Louisa
von dunkler Aufsehen erregender Schönheit ist,
die noch immer jedem ins Aug fällt, allerdings
weder
Zeit für Wohltätigkeitsarbeiten noch für Bibelstudien hat,
legt Yael
weder auf ihr äußeres Erscheinungsbild größeren Wert noch ist
sie an der Welt des Spirituellen interessiert. Hingegen
Louisa lässt sich von Stimmen ihrer bereits verstorbenen Mutter
leiten, misst diesen große Bedeutung zu. Außerdem ist nicht nur in
ihrem Wunsch, ihre Tochter zu schützen, gefangen, sondern auch in
der eigenen Vergangenheit und der Pflicht, den guten Ruf zu wahren.
Aber sie verändert sich, und dies geschieht in einer für den Leser greifbaren Art und Weise.
Gleiches gilt für Yael. Allerdings
ist sie, die die meisten Vorbehalte gegen die Reise
hat, es, die letzten Endes über sich hinauswächst, als sie der Armut
und Unterdrückung der ägyptischen Bevölkerung begegnet. Sie
handelt, entdeckt ihre eigenen, beträchtlichen Fähigkeiten und
emanzipiert sich, breitet die Flügel aus, bekommt Ausstrahlung und
Souveränität und lebt eine Toleranz im Glauben, die bewundernswert
ist.
Nachvollziehbar
wird
auch
der Wandel von Harriet geschildert.
Anfangs ist sie in London eine
sterbenskranke, schwache
junge Frau. In Ägypten lernt sie mit der Zeit das Atmen, gewinnt Kraft, Zuversicht und Unabhängigkeit. Dabei
ist die Entwicklung langsam, kommt nicht als Wunder einer
plötzlichen Heilung daher
und weist zudem Rückschläge
auf.
Harriet und damit auch dem Leser wird bewusst,
dass die Welt ungeheuer schön und voller Möglichkeiten und
Abenteuer sein
kann.
Dass
sich die Leben
der Menschen nicht nur in ihrer Länge unterscheiden, sondern vor
allem in ihrer Intensität, im ungleichen Grad an Schönheit, Freude
und Genuss. Dass es wichtig ist, sich nicht
einfach nur ein langes Leben zu
wünschen, sondern eines,
das Belang hat, ein Leben (und
eines Tages auch einen Tod) nach
eigenen Vorstellungen...