Da ich noch einige Rezensionen vorbereitet habe, beginne ich den September mit einer Woche, in der ich euch täglich ein Buch vorstellen werde. Vielleicht findet ihr den einen oder anderen Lesestoff und/oder fühlt euch veranlasst, meine Meinung durch eigene Leseerfahrung zu überprüfen.
Auf den ersten Blick vereint die beiden Protagonistinnen des dritten Romans „Insel der blauen Gletscher“ von Christine Kabus wenig. So sehr unterscheiden sie sich in Alter, Herkunft, Lebenszeit und -weise. Und doch ist ihnen eines gemeinsam: Sie verlassen ihre gewohnte Umgebung und suchen ihren eigenen Weg für ein erfülltes Dasein.
Elberfeld im Rheinland, Mai 1907. Emilie, die behütete Tochter des Fabrikanten Gustav Berghoff, feiert gerade ihren 21. Geburtstag und sieht sich den typischen Zwängen ihrer Zeit ausgesetzt: Nicht nur dass sie sich tatsächlich in ein Korsett pressen muss, sich während der Schulzeit lediglich mit Handarbeiten, Auswendiglernen und Abschreibeübungen in Schönschrift beschäftigen durfte. „Wir werden hier nicht über Gebühr mit Wissen belastet. Das hat immerhin den Vorteil, dass wir unseren solcherart geschonten Verstand nachher noch haben werden.“ (Seite 442), schlussfolgert eine Mitschülerin treffend. Sondern es ist auch für Emilie trotz ihrer Intelligenz und ihres vorhandenen Talents nicht vorgesehen, dass sie eine Ausbildung macht. Stattdessen besteht nach Anschauung ihres Vaters das Ziel darin, sie gut zu verheiraten. Damit folgt er dem klassischen Modell, wonach eine Frau versorgt werden sollte. Beklemmende Aussichten für eine Frau von Emilies Format...
Doch dann bietet sich ihr eines Tages die Gelegenheit, zumindest für eine Zeit aus ihrer gewohnten Tristesse auszubrechen. Weil Emilies hochsensibler, schöngeistiger, aber gleichwohl lebensuntüchtiger Bruder Max, Student der Biologie, auf Grund seiner ihn beherrschenden Versagensängste nicht in der Lage ist, an einer Expedition nach Spitzbergen teilzunehmen, tritt sie an seine Stelle. Verkleidet als fescher junger Mann, wobei ihre burschenhafte Figur, die buschigen Augenbrauen und ihr tiefer Stimmentimbre sich als Vorteil erweisen, beginnt sie das Abenteuer ihres Lebens.
Sulzbach-Rosenberg in der Oberpfalz, Juli 2013. Hanna hat gerade ihren Sohn Lukas zum Flughafen gebracht und sich für ein Jahr, das er als Helfer in einem bolivianischen Waisenhaus verbringen will, von ihm verabschiedet. Bei der Rückkehr nach Hause überrascht sie ein Brief ihres Mannes Thorsten, in dem er ihr offenbart, dass er sie verlässt, um nicht länger unzufrieden sein Leben aufzuschieben, sondern entgegen seinem sonstigen Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit neue Wege gehen will.
Nach dem ersten – verständlichen Schock – rafft sich Hanna – auch auf Grund des aufmunternden Zuspruchs ihres guten Freundes Heiko auf und lässt ihr bisheriges Dasein hinter sich, um zu ihren beruflichen Ursprüngen zurückzukehren. Einst hatte sie für ihre Familie ihren erfolgreichen Job als Reisejournalistin an den Nagel gehängt. Jetzt bietet sich ihr die Gelegenheit, für ihre alte Redaktion nach Spitzbergen zu fliegen.
Christine Kabus ist eine ausgezeichnete Erzählerin. Die sich abwechselnden Geschichten der beiden Frauen sind detailliert und mit viel Hintergrundwissen gefüllt. Umfangreiche Informationen geschichtlicher, örtlicher, baulicher oder technischer Natur fügen sich gekonnt in den Text ein und sind für den Leser wissenserweiternd. Bis zur Zusammenführung der beiden Handlungen gibt es berührende, spannungsreiche, geheimnisvolle und nachdenkliche Momente zu entdecken. Da der Humor das eine oder andere Mal ebenfalls nicht zu kurz kommt, ist das Lesen insgesamt ein Vergnügen.
Wie schon in den Vorgängerromanen der Autorin, spielt bei Norwegen eine Hauptrolle. Insbesondere steht Spitzbergen im Fokus der Geschichten von Emilie und Hanna. Zwei Landkarten lassen hierbei eine gute Orientierung zu.
Spitzbergen ist mit einer Fläche von fast 38.000 km² die größte Insel der gleichnamigen Inselgruppe im Arktischen Ozean und als einzige bewohnt. 2.500 Menschen halten es hier im arktischen Klima aufgeteilt auf fünf Dörfer aus. Zu ihnen gesellen sich 3.000 Eisbären, 10.000 Spitzbergen-Rentiere, ein paar Tausend Walrosse, Robben und Polarfüchse. Die Küsten Spitzbergens sind stark gegliedert und bilden zahlreiche Fjorde, die im westlichen Teil wegen des Golfstroms im Winter oft nicht zufrieren. Der größte und zugleich bekannteste Fjord ist der Isfjord, der weit ins Zentrum der Insel reicht und mit geschützten Lagen die günstigsten Bedingungen für menschliche Besiedlung bietet.
Spitzbergen liegt nördlich der Permafrostgrenze. Das bedeutet, dass der Boden an den Küsten ständig zehn bis vierzig Meter, im Hochland des Inselinneren sogar mehrere hundert Meter tief gefroren ist. Daher sind Geburten und Sterbefälle auf Spitzbergen nicht erlaubt. Eigentlich. Ab und an geschieht es trotzdem. Und im Hinblick auf das Ableben ist das eine heikle Sache: Wegen des Permafrostes kann niemand beerdigt werden, die Leichen werden konserviert...
Beeindruckend sind die Schilderungen der majestätischen und bezaubernden Landschaft. So kann der Leser mit Emilie den erhabenen Anblick erleben, mit dem Schiff durch grünblaues Wasser auf die auf den Gipfeln mit Schnee bedeckten Berge und blauen Gletscher zuzugleiten.
Über die Hälfte der Landfläche von Spitzbergen ist von Gletschern in vielerlei Gestalt bedeckt - manche sehen aus wie gewaltige Tafeln, andere wiederum ähneln bizarren Berglandschaften. Sie sind zwar ständig in Bewegung, dies aber auf Grund der niedrigen Temperaturen und geringen Niederschläge nur sehr langsam. Lediglich in den feuchteren Küstengebieten verändern die Gletscher ihre Lage um zehn bis dreißig Meter pro Jahr. In der Regel sind die Kolosse strahlend weiß. Manchmal gibt es jedoch auch blaue Eisberge. Ihre Farbe beruht ganz simpel auf Physik, nämlich den optischen Eigenschaften des Eises. Tiefblau schimmert ein Eisberg nur, wenn er sehr wenige Luftbläschen enthält.
Oder er lässt mit Hanna gern den "Blick über den Fjord zum gegenüberliegenden Ufer schweifen, in dessen schwarzen Felsen hunderte Seevögel" (Seite 316) nisten, in deren Rufe sich das leise Rauschen des Windes mischt, wo blaue von einem Gletscher abgebrochene Eisstücke über das Wasser und an den Strand treiben. Wenn sie wie Diamanten zwischen bunten Steinen glitzern, mag man nur an die traumhafte Kulisse und die friedliche Atmosphäre denken und nicht daran, dass der Mensch selbst die größte Bedrohung für das alles ist. Es ist wunderbar, wie die Autorin das beschreibt. Dadurch entstehen lebhafte Bilder, gemalte Momente: "Der Himmel wölbte sich tiefblau über ihnen, die Sonne stand über den Hügeln und ließ das rötliche Gestein leuchten. Vom gegenüberliegenden Steilufer trug eine sanfte Brise die Rufe der Vogelkolonie herüber." (Seite 334)
Dazu passt das wunderschöne Cover mit dem hellen Licht der aufsteigenden Sonne über den blauen Gletschern hervorragend.
Christine Kabus hat ihre Figuren, allen voran Emilie und Hanna mit viel Feingefühl entwickelt.
Emilie ist warmherzig und mutig. Die Abenteuerlust lockt sie. Sie verfügt über einen messerscharfen Verstand. So schnell haut sie nichts um. Keine stürmische Fahrt übers Meer, schießwütige Kerle, die Aussicht, vielleicht riesigen Eisbären zu begegnen.
Sie möchte selbst ihren Weg suchen und nicht ausnahms- und meinungslos tun, was von ihr erwartet wird, sich nicht all den Regeln, Vorschriften und Zwängen ohne Aussicht auf persönliches Glück unterwerfen. Im Verlaufe der Reise entwickelt sie sich, verinnerlicht die Rolle ihres Bruders mehr und mehr, auch wenn es zwischendurch ein paar Momente gibt, in denen sie alten Gewohnheiten folgt. Tatsächlich stellt sie fest, dass es nicht leicht ist, Verhaltensmuster, die einen jahrelang geprägt haben, durch neue zu ersetzen, in erster Linie, wenn es unbekannte männliche Gebaren sind. Aber Emilie kommt immer besser zurecht und schätzt die damit verbundenen Freiheiten. Unter anderem, nicht mehr das abhängige und fremdbestimmte sich Leben einer Frau zu führen, die Möglichkeit zu haben, einen anderes Stück der Welt kennen zu lernen. Sie macht die Erfahrung, Teil einer Gruppe zu sein, die Hand in Hand miteinander arbeitet und gemeinsam den Gefahren die Stirn bietet, dass dies ein befriedigendes Gefühl ist. Gebraucht zu werden. Ein sinnvolle Tätigkeit auszuüben.
Hanna dagegen scheint mit 45 Jahren schon auf Grund ihrer Lebenserfahrung gefestigter. Doch der Eindruck täuscht. Denn auch Hanna hat ihr Päckchen zu tragen. Sie ist eine Frau mit einem großem Einfühlungsvermögen. Allerdings drängt sie ihre eigenen Gefühle zurück, sobald jemand, der ihr nahesteht, emotional ihre Unterstützung benötigt.
Am Beginn ihrer Reise steht sie vor den Trümmern ihrer Ehe. Weil sie viel zu lange nicht wahrhaben wollte, dass sie und Thorsten schon seit Jahren nebeneinander her leben und sie aus Bequemlichkeit oder auch aus Furcht vor den Konsequenzen ihre Unzufriedenheit verdrängt und meine Wünsche und Vorstellungen von einem erfüllten Leben unterdrückt hat. Doch schlussendlich bietet sich ihr nun eine Chance, an der Reihe zu sein. Sie muss kein schlechtes Gewissen mehr haben und Rücksicht nehmen, kann das tun, was sie möchte.
Neben Emilie und Hanna hat die Autorin den Nebenfiguren viel Raum und Charakter gegeben.
Da ist zum Beispiel Kare, gutaussehender Einzelgänger, der bislang nirgendwo Wurzeln geschlagen hat und feste Bindungen einging, gleichwohl jedoch einfühlsam, umgänglich, bescheiden ist, bleibt in Erinnerung als einer der seltenen Menschen, die lieber zuhören, weder fordernd noch besitzergreifend sind, sondern aufmerksam und zugewandt. Es macht Spaß zu lesen, dass er an Hannas Seite wie ausgetauscht wirkt. Sie tut ihm sichtlich gut. Und das beruht auf Gegenseitigkeit.
Emilies Tante Fanny, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, das sie keinesfalls streng und steif sieht, schließt der Leser ins Herz, weil sie ihre Nichte in ihrem Bestreben auf Selbstbestimmung unterstützt.
In der Gegenwart des sympathischen Engländers William fühlt sich jeder unbeschwert. Nicht nur Emilie. Er hat Humor und interessiert sich aufrichtig für andere Menschen.
Dann sei noch Arne erwähnt, die „Inkarnation eines Wikingerhäuptlings", dem wenige Worte ausreichen und der nicht so zugänglich, sondern eher ungehobelt und mürrisch erscheint.
Natürlich bekommen außer den vorgenannten weitere interessante, freundliche oder gar unleidliche Protagonisten ihren Auftritt. Sie alle beleben den Roman, und wer ihnen, vor allem aber Emilie und Hanna und der großartigen Natur Spitzbergens begegnen möchte, dem sei die Lektüre des Romans an Herz gelegt.
Diese Reise lohnt sich auf jeden Fall!