Nun habe ich wieder ein paar blogfreie Tage ins Land gehen lassen. Als Ausgleich bekommt ihr heute mal eine Doppelrezension aufs Auge gedrückt...
"Das Leben ist
manchmal voller Zufälle, das Leben ist manchmal voller Absichten." (Seite 371)
Kannst du dir das vorstellen? Du denkst an nichts Böses, und dann
bekommst du eine E-Mail, in der steht, dass du am nächsten Tag tot bist. Du
glaubst, einer erlaubt sich einen Scherz mit dir und lachst, als du dich am
nächsten Morgen noch lebendig fühlst. Und doch musst du begreifen, oder
zumindest es versuchen, dass MOTTE, der du bisher warst, tatsächlich tot im
Bett liegt und nicht mehr atmet. Und dass dir auf deinem Rücken Flügel wachsen.
Da
vergeht dir echt das Lachen, und Verwirrung macht sich in dir breit. Denn deine
Zukunft sieht nicht rosig aus: Du
wirfst keinen Schatten, dein Herz schlägt nicht, und am nächsten
Pinkelwettbewerb darfst du nicht teilnehmen, weil dir das Werkzeug fehlt. Da ist
es ein schwacher Trost, dass dich dein bester Freund Lars sehen kann. Denn dein
Vater kann es nicht.
Jetzt bist du DER LETZTE ENGEL.
Und es ist der Anfang von etwas Neuem.
Oder das Ende?
Oder das Mittendrin?
Jedenfalls ist es ein Hin und Her.
Eine Irrfahrt. Für dich. Für den Leser.
Zwischen die Zeiten.
Zwischen die Welten.
Zwischen die Interessen.
In ein Haus nach Irland, in dem acht
Mädchen und ihre Gouvernanten gemeuchelt werden. Es gibt nur eine einzige
Überlebende: MONA, die Erinnerungen der Person abrufen kann, die sie
berührt. Und sich einen weiteren ENGEL damit an Land zieht: ESKO. Das ist
der, der später die E-Mail schreibt. Aber das nur am Rande. Verantwortlich für
das Massaker zeichnet LAZAR, ein Söldner, der aussieht wie Christopher Walken,
ein schwer bis gar nicht zu durchschauender Typ.
Der Leser lernt viele weitere Protagonisten
kennen, unter anderem zwei Gräfinnen, die Brüder Grimm und den Zaren in Sankt
Petersburg. In einem Moment ist es 1815, dann wieder heute, und erneut wandert
der Leser in die Vergangenheit. Fliegende Wechsel allenthalben. Daneben abstruse
Experimente, viele sterbende Jungen, die meisten davon tun dies nicht
freiwillig, eine Bruderschaft, die (sogenannte) Familie, über deren Zweck und
Ziele der Leser wenig Klarheit erhält. Gleichzeitig lässt sich die Frage
nach Gut oder Böse nicht beantworten. Eine ständige Ungewissheit liegt über dem
Geschehen.
Die vielen unerwarteten Zeitsprünge und
Positionswechsel und die Informationsdichte verlangen hohe Aufmerksamkeit vom
Leser. Gekonnt werden nicht nur Zeitepochen und Schauplätze und Zeitformen,
sondern auch das biblische Engelsmotiv
mit fantastischen Fäden verwoben. Denn Zoran Drvenkar greift die Thematik der
Existenz von ENGELN auf eine besondere Weise auf. Seine Engel sind männlich, gleichwohl (im wahrsten Sinne des
Wortes) geschlechtslos.
So erscheint die Geschichte des letzten Engels zwar äußerst komplex und
unübersichtlich. Trotzdem reizen die zügigen Wechsel den Leser zum Weiterlesen,
bannen ihn ans Buch und lassen ihn hoffen, einen angefangenen Faden verfolgen
zu können. Allerdings hält er oft ein loses Ende in der Hand, so dass sich der
Sinn (noch) nicht begreifen lässt.
Dadurch bleibt die Charakterisierung der
Figuren manchmal etwas auf der Strecke, der Leser entwickelt zum Teil nur
andeutungsweise Sympathie und Ablehnung.
Mit MOTTE trifft der Leser auf einen Jungen einnehmenden Wesens, mit dem er
sich identifizieren kann, weil er vielleicht ein wenig träge, aber trotzdem mit
seiner Zuversicht versehen ist, dass er alles packen wird, was auf ihn zukommt.
Ihm zur Seite steht Lars, sein bester Freund, nicht der Mutigste, der erst
wegrennt, den aber danach sein Ego schüttelt und fragt, ob er denn vollkommen
ohne Ehre und Würde wäre. Das ist er natürlich nicht. Und auch Rike muss
erwähnt werden, das Mädchen, bei dem Motte von Liebe spricht, und die es wert
ist.
Äußerst geschickt positioniert der Autor
historische Personen in der Geschichte und haucht diesen gleich den fiktiven
Figuren Leben ein, spielt mit dem ihm dadurch gegebenen Möglichkeiten.
Zoran Drvenkars Erzähltempo ist durchaus
rasant und anspruchsvoll, dürfte den jugendlichen Leser jedoch nicht
überfordern. Wer sich darauf einlässt, den erwartet ein mitreißendes Abenteuer,
dessen offenes Ende und ungelösten Fragen zugegebenermaßen einerseits nicht befriedigt, andererseits jedoch zum Lesen
der Fortsetzung verlockt.
"Sucht den Schlüssel, der das Tor
zu den Engeln öffnet. Und suchen müsst ihr, denn der Schlüssel ist verborgen im
Kern des Lebens, verborgen tief in den Gebeinen. Denn wie das Wasser die Erde
erweckt, werden es vier Engel sein, die uns erwecken." (Seite 212)
"In einer Zeit lange vor unserer Zeit gab es eine Epoche und sie
wurde die Epoche der Engel genannt. Es waren die Engel, die der Menschheit ihr
Wissen einhauchten, es waren die Engel, die dem Leben der Menschen einen Sinn
gaben. Sie lebten über die Welt verteilt und säten Gerechtigkeit und lehrten
Frieden. Sie brachten Licht in die Dunkelheit und ließen die erste Zivilisation
erblühen... Es gab keine Plagen, keinen Hunger, keine Kriege. Die Engel hielten
die Welt im Gleichgewicht und herrschten, ohne jemals die Hand zu erheben. Und
die Menschheit achtete dieses Geschenk und verlangte nicht nach mehr."
(Seite 33)
Kannst du dir das vorstellen? Da bist du DER LETZTE ENGEL auf Erden, und dann kommt einer daher und schneidet dir die Flügel ab, buddelt dich ein und lässt dich da einfach liegen. Klar, dass du mächtig sauer bist, auch später noch, nachdem deine Freunde dich ausgegraben haben. Wie stehst du denn jetzt da? Ein ENGEL hat doch Flügel.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten: Du gewöhnst dich daran, dass du ein ENGEL ohne Flügel bist, nachdem du schon einigermaßen verdaut hast, überhaupt einer zu sein. Oder du holst dir (verdammt noch mal) die Flügel zurück. Denn schließlich bist du MOTTE, ein Krieger im Herzen.
Was sich leicht anhört, ist es nicht. Denn wohin willst du gehen, nachdem du erfahren hast, dass dein bisherigen Leben eine einzige große Lüge war, du kein Zuhause mehr hast und für die Welt tot bist? Und einige etwas dagegen haben, dass du überhaupt existierst.
Und so musst du, als wäre die auf deinen Schultern lastende Tatsache, DER LETZTE ENGEL zu sein, nicht schon genug, dich nicht nur auf die Hilfe deiner Freunde verlassen können, sondern auch Allianzen mit Personen eingehen, die dir bislang nicht unbedingt wohl gesonnen waren. Und gleichzeitig musst du nebenbei verhindern, dass eine Prophezeiung sich erfüllt, nach der bei deinem Tod die Welt untergeht. Denn ein Leben ohne ENGEL ist eines ohne Gleichgewicht und ohne Frieden. Also kein Leben mehr...
In der Fortsetzung DER LETZTE ENGEL - DER RUF AUS DEM EIS begegnen dem Leser neben alten Bekannten einige neue Protagonisten, wobei nun MOTTE, DER LETZTE ENGEL, mehr in den Fokus gerückt ist. Mit ihm gerät der Leser in den abenteuerlichen Strudel der Ereignisse, die ihn bis ins tiefste sibirische Eis führen, wo die Fäden zusammenlaufen und das Bild zu einem Ganzen gewebt wird.
Ihm zur Seite stehen mehr oder weniger ESKO, der ENGEL aus der Vergangenheit, das Mädchen MONA, Mottes große Liebe Rike und sein bester Freund Lars. Die Szenen mit Letzterem gehören zu den kleinen Sternstunden der Geschichte, weil Lars mit seiner flippigen Art einmal zum Knutschen ist oder aber den einen oder anderen Tritt verträgt. Er ist die gute Seele, bei der es immer dazu kommt, dass sie ganz dringend Blödsinn anstellen muss. Einer, der denkt, dass ein wenig ENGELsblut ausreicht, damit Flügel wachsen. Jedoch ebenso einer, der keinen Schiss hat, auch wenn alle Schiss haben. Lars eben.
Natürlich sind auch LAZAR und die Gräfinnen mit von der Partie. Und die Hintergründe der Bruderschaft und der Familie bekommen mehr Kontur. Wobei sich wiederum in der Fortsetzung der Geschichte erneut keine eindeutige böse oder gute Seite herauskristallisiert. Da hat Zoran Drvenkar ein paar Überraschungen auf Lager, und es bleibt dem Leser überlassen, sich seine Meinung zu den Handelnden zu machen, die wie jeder Mensch ihre Vorzüge und Schwächen haben und vom Autor gleichwohl lebensecht und glaubwürdig gestaltet wurden.
Insgesamt bleibt der Autor seinem Erzählstil und -tempo treu, steigert dieses sogar das eine oder andere Mal, so dass der Leser gefesselt ist und die Verknüpfung der Fäden nicht erwarten kann. Der Wechsel von Gegenwart und Vergangenheit und der Position des Betrachters lässt keine Langeweile aufkommen, verlangt allerdings auch die Aufmerksamkeit des Lesers in hohem Maße, indes er des Öfteren sogar direkt angesprochen wird und sich in die Geschichte integriert fühlt.
Historischen Ereignisse und Personen fügen sich hervorragend recherchiert ein und tragen zum Lesegenuss bei. Ob die endgültige Bestätigung, dass es sich beim Zaren um Alexander I. handelt, bei dem sich der Autor geschickt die Legende zu Eigen macht, der Zar habe, nachdem er des Regierens von Russland überdrüssig war, seinen eigenen Tod vorgetäuscht. Oder die Einbindung von weiteren historischen Persönlichkeiten wie Nikolai Petrowitsch Rumjanzew und Otto von Kotzebue sowie die Rurik-Expedition von 1815. Drvenkar beweist geschickt sein Können bei der Einarbeitung real existierender Gegebenheiten in eine fantastische Geschichte, die den Leser unterhält, ohne belehrend zu ein, wenngleich sie durchaus zum Nachdenken über moralische Grundsätze anregt.
Da könnte ich ja glatt schwach werden.....
AntwortenLöschenLiebe Grüße, Silke
Liebe Anke,
AntwortenLöschendas reizt zum Lesen.
Ist meine Karte schon angekommen?
Alles Liebe
Elisabeth
Das klingt zum Habenwollen, unbedingt.
AntwortenLöschenIch liebe solche Geschichten. Danke.
<3lichen Grüß von Gisa :)
Liebe Anke,
AntwortenLöschenden Text schaffe ich jetzt leider nicht zu lesen, möchte aber gern ein paar liebe Grüße hierlassen. Mir geht es nicht anders. Der Garten schreit ständig "hier" und so viel anderes ist zu tun, dazu bin ich ja fast ständig unterwegs .... da ist das Internet mit all seiner Faszination leider das Letzte, zu dem ich derzeit komme.
Alles Liebe für Dich
Sara