Sonntag, 28. August 2016

Wechselbad der Gefühle

Callie ist auf dem Weg nach Hause, um dort den Sommer gemeinsam mit ihrer Schwester Holly und ihrer Stiefmutter Stella zu verbringen, als sie ihrem Stiefbruder auf dem Flughafen begegnet. Sieben Jahre hat sie ihn nicht gesehen, und sie erkennt ihn nicht. Nach dem Unfall ihres Vaters, bei dem dieser ums Leben kam, hatte die damals Dreizehnjährige Keith die Schuld zugewiesen und ihm nie verziehen, dass er die Familie ohne Erklärung verlassen hatte.

Nach wie vor leidet Callie unter dem Verlust des Vaters und straft Keith mit Ablehnung und Hass. Und doch entwickeln sich hinter der Wut und Feindseligkeit andere - verbotene - Gefühle, die so gar nicht zu denen passen wollen, die Callie sich in der Vergangenheit zugelegt zu haben glaubt. Aber kann sie sich darauf einlassen, und will sie dies überhaupt?


Was auch immer geschieht von [Iosivoni, Bianca]


Wer hinsichtlich der Geschichte von Callie und Keith in "Was auch immer geschieht" mit einer ausführlichen Beziehung zwischen Stiefgeschwistern rechnet, wird möglicherweise enttäuscht sein. Denn der Konflikt der "(Stief)Geschwisterliebe" wird von Bianca Iosivoni zwar thematisiert, steht jedoch nicht im Vordergrund und spielt erst gegen Ende überhaupt eine größere Rolle.

Vielmehr beschäftigt sich die Autorin ausführlich mit der Gefühlswelt ihrer Protagonistin, und dies gelingt ihr insbesondere durch die Darstellung des Geschehens aus Callies Ich-Position heraus.

"Ich schrieb meine Gefühle aus mir heraus, brüllte sie aufs Papier, atmete sie aus und verbannte sie in diese Textzeilen." (69)

Daneben bleiben die Empfindungen der anderen Figuren zurück, wenngleich sie auf Grund der geschilderten Begebenheiten, Reaktionen und Gespräche nachvollzieh- und spürbar werden.

Insgesamt gelingt der Autorin mit ihrer Art des Schreibens, die mit bildhafter und ausgewogener Sprache die Vorgänge in Szene setzt, im Großen und Ganzen eine gute Zeichnung der Figuren.

Callie macht zunächst den Eindruck, mit beiden Beinen fest im Leben zu stehen, sie wartet mit Charme und Humor auf. Es kristallisiert sich jedoch schnell heraus, dass sie einen wunden Punkt hat, der ihre unversöhnliche Seite zeigt. Nach dem Unfall, den sie und Keith überlebten, ihr Vater jedoch nicht, gibt sie ihrem Stiefbruder die Schuld und geht nach dem Wiedersehen sofort auf Konfrontationskurs. Entgegen all ihrer Bemühungen hat sie den Tod ihres Vaters weder verarbeitet noch überwunden und klammert sich an ihre negativen Gefühle wie Hass und Verzweiflung. Dabei entsteht manchmal der Eindruck, dass Callie sich in der Wiederholungsschleife befindet, weil sie sich immer und immer wieder mit ähnlichen Überlegungen beschäftigt, ohne vorwärts zu gelangen. Folglich tritt der Leser zeitweise gleichermaßen auf der Stelle und ist bemüht, Callie einen Schubs zu geben. Denn sie ist so in ihrem Trauma gefangen, dass sie darüber vergisst, dass auch andere einen Verlust erlitten haben.

Keith ist ein junger Mann, für den sich schnell Sympathie entwickelt lässt, obwohl er eine durchaus provozierende Art an den Tag legt, vor allem im Umgang mit Callie. Seine kleinen Bemerkungen fordern Callie heraus, bringen sie aus der Fassung und lassen sie die Beherrschung verlieren, aber verletzend sind sie nicht wirklich. Und sie setzen ein Denken und Nachdenken in Gang, das für Callie in letzter Zeit ohne Bedeutung war. Von Anfang an spricht vieles dafür, dass er nicht die Person ist, für die Callie ihn hält und das mehr hinter seinem Verhalten steckt, als der Leser zu diesem Zeitpunkt begreift. Immer mehr entpuppt sich Keith als feinfühliger junger Mann, der für Callie da ist und sie festhält, als sie ihn braucht, um ihr inneres Gleichgewicht und Ruhe zu finden. Das ist es, was ihr nach dem Unfall gefehlt hat. 

Die widerstreitenden Gefühle werden begreifbar geschildert, beide spüren die gegenseitige Anziehung, sträuben sich aber dagegen. Der Zwiespalt, in dem sie sich befinden, wird deutlich. Es ist verständlich, dass es besonders für Callie beunruhigend ist, wie sich ihre negative Einstellung plötzlich verändert und anderen Empfindungen Platz machen.

Die anderen Figuren fügen sich harmonisch ins Geschehen ein. Hierbei fallen nicht nur Callies Schwester Holly mit ihrer erfrischenden Art und Stiefmutter Stella, die mit Warm- und Offenherzigkeit punktet, positiv ins Gewicht, sondern auch ihre Freunde Faye und Parker, die ihre eigene Geschichte haben. Offen bleibt, wie es beispielsweise mit ihnen weitergeht, was Spielraum für die eigene Fantasie lässt. Möglicherweise gibt es mit ihnen ein Wiedersehen.

Insgesamt schafft es die Autorin, das Wechselbad der Gefühle zwischen Callie und Keith so zu verdeutlichen, dass es eine Freude ist, sie zu begleiten, "Was auch immer geschieht".

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Nutzer der Kommentarfunktion erklären sich mit der Speicherung und Verarbeitung ihrer Daten durch diese Webseite einverstanden.