„Es
gibt kein richtiges Leben im falschen. Wenn Menschenfeinde
aufmarschieren, müssen wir eine Zeit lang aufhören, Schneider,
Buchhalter und Musiker zu sein, und zusammen zur Mauer werden, an der
Verbrecher abprallen. Darum kämpfen, wieder zu leben. Unser
richtiges Leben.“
Berlin
1963. Die neunzehnjährige Wanda hat bisher ein unbeschwertes und
beständiges Leben geführt. Keines, in dem das Geld reichlich
fließt, aber es geht ihr und ihrer Familie, die aus Mutter, genannt
Matti, Tante Lore und den Schwestern Vera und Ariane besteht, gut.
Zudem ist sie privilegiert: sie darf studieren.
Mit ihrem offenen, den Menschen zugewandten Wesen findet sie schnell
Freunde.
Als
sie eines Tages Andras kennenlernt, ist die bisherige Gleichmut ihres Daseins vorbei, denn der streitbare junge Mann, der im Holocaust Mitglieder seiner jüdischen Familie verloren hat und sich
vehement für die Opfer des Naziregimes einsetzt, gibt ihr eine harte
Nuss zu knacken:
Warum
hat es sie eigentlich nie interessiert, wo sie herstammt, wo ihre
Wurzeln liegen? Warum wird in ihrer Familie nie darüber gesprochen?
Hat diese womöglich in den Zeiten des Krieges Schuld auf sich
geladen und versucht, wie viele andere einen Mantel des Schweigens
darüber zu legen? Wanda lässt nicht locker und akzeptiert die
wenigen, ausweichenden und vertröstenden Antworten nicht. Als sie ein
erschütternder Schicksalsschlag trifft, muss sie sich selbst auf die
Reise nach Polen an den Ort ihrer Geburt begeben, um die Schatten,
die über der Vergangenheit liegen, lüften zu können...
In
den Zwanziger Jahren genießen Gundi, Lore, Julius und Erik in Danzig
und dem angrenzenden Ostseebad Zoppot ihre Jugend und die
Sommerfrische und träumen von einer Karriere als Musiker. Sie wollen
anderen Menschen Freude bringen und mit beschwingten Melodien
unterhalten. Eine entsprechende Tanzkapelle haben sie bereits, indes
der Erfolg will sich für „Die Piroggen“ noch nicht richtig
einstellen. Danzig wird vom internationalen Völkerbund verwaltet,
die Nazis haben in der Stadt, in der Deutsche und Polen relativ
problemlos zusammenleben, bislang nichts zu melden. Doch ziehen bereits
erste dunkle Wolken auf.
Aber
das interessiert Gundi Sonnenschein – wie sie von allen genannt
wird – nicht. Sie ist das glücklichste Kind von der Ostsee.
Auch ohne Vater und Mutter, dafür verwöhnt vom heiß geliebten
Großvater Pop und Tante Karl, nimmt sie das Leben leicht, redet sich
die Welt schön, und keiner kann sich ihrem überschäumenden Gemüt
und ihrer schwingenden Sinnlichkeit entziehen und ihr lange böse
sein.
Als
Gundi und „Die Piroggen“ mit dem Lied „Morgen am Meer“ ihren
Durchbruch haben und zu einer bekannten Größe avancieren, dauert es
nicht lange und sie fallen auch der ortsansässigen erstarkenden
NSDAP ins Auge. Deren Gauleiter Forster ist in das Lied verliebt und
protegiert „Die vier aus Zoppot“, wie sie inzwischen heißen, bis
hin zu Auftritten auf der „Wilhelm Gustloff“, einem
Kreuzfahrtschiff des von den Nazis kreierten „Kraft durch
Freude“-Programms. Dort begegnet Gundi, zwischenzeitlich mit Julius
verheiratet und Mutter einer Tochter, dem Sänger Tadek und der wahren
Liebe, um die sie kämpfen muss, als Polen von Hitlers
Deutschland überfallen wird und Tadek sich dem Widerstand
anschließt. Zu welchen Opfern ist sie für die Erfüllung ihrer
Sehnsüchte bereit?
Charlotte Roth überzeugt mit „Wenn wir wieder leben“ mit einer meisterhaften Geschichte, die nicht nur kraftvoll, sondern auch mit Gedankentiefe, Emotionalität und einer Botschaft erzählt wird. Durch ihren respektvollen Umgang mit der Vergangenheit, gelingt es der Autorin, mit ihrem Werk dem sich breit machenden Vergessen ein Erinnern entgegenzusetzen, das neben innigen, ergreifenden, traurigen und wütend machenden Momenten auch ungemein viel Hoffnung Humanität und Liebe offenbart.
Wortkonstrukte
und Satzgesänge lassen unschwer die Autorin erkennen. Ihrem
herausragende, bilderreichen, manchmal auch larmoyanten Schreibstil,
der gleichermaßen zu Tränen rührt und einen lächeln lässt, wohnt
ein einzigartiger Zauber inne, der nur in ihren Romanen zu finden
ist. Erhöht wird der Lesegenuss dadurch, dass die Autorin es gekonnt
versteht, dem Geschehen durch die Verwendung von Begriffen und
Redewendungen des im Danziger Raum gesprochenen Missingsch
zusätzliche Atmosphäre zu verleihen.
In
den Figuren von Charlotte Roth steckt enormes Herzblut. Sie lotet
deren charakterliches Potential aus, erspart ihnen nichts, heischt kein Wohlwollen ein,
sondern lässt sie durchaus zum Unverständnis aller agieren. So
erzeugt sie eine markante Lebensnähe, die nichts beschönigt.
Deutlich wird dies insbesondere an Gundi, die mit ihrem Verhalten,
ihrer politischen Unwissenheit und dem damit einhergehenden
Desinteresse, ihrer Sorglosigkeit und starken, rücksichtslos
scheinenden Sehnsucht nach Liebe nicht immer Sympathiepunkte sammelt,
weil sie in der privaten kleinen Welt nicht über den Tellerrand
schaut und die Auswirkungen auf die Ereignisse um sie herum begreift.
Nicht rechtzeitig zumindest...
Es
ist Charlotte Roths persönlichstes Buch, wie sie im Nachwort
erklärt. Weil Danzig und seine Menschen Teil ihrer eigenen
Familiengeschichte sind. Und weil es wichtig ist, in dieser Zeit die
Stimme zu erheben. Gut, dass sie es geschrieben hat.
Liebe Anke,
AntwortenLöschendas ist ein anspruchsvolles Buch.
Alles Liebe
Elisabeth
Du scheinst eine Schnellleserin zu sein, liebe Anke. Da komme ich gar nicht mit. ;-) Ich habe noch 2 Bücher zu redigieren sowie ein eigenes Manuskript fertig zu schreiben, das ist ein Haufen Arbeit und dauert bei mir entsprechend lang.
AntwortenLöschenÜbrigens habe ich gerade meinen anderen Blog auch wieder reaktiviert. Hoffe, dass ich zum Winter wieder mehr zum Bloggen komme.
Liebe Grüße und einen schönen Feiertag!
Sara
Hallo Anke,
AntwortenLöschendeine Rezi klingt nach einem interessanten und auch nicht gerade leichtfüßigem Buch. Ich hatte auch bereits damit geliebäugelt, vielleicht zieht es noch bei mir ein. Vielen Dank jedenfalls für deine schöne Besprechung.
LG und einen schönen Feiertag,
Barbara