Wir
schreiben das Jahr 1850. In London wird die Große Weltausstellung
vorbereitet. Währenddessen arbeiten die einundzwanzigjährigen
Schwestern Rose und Iris Whittle bei Mrs Salter in ihrer
Puppenfabrik. Einst waren die eineiigen Zwillinge ein Herz und eine
Seele. Sie träumten von einem eigenen Laden mit Regalen voller
Blumenschmuck und Vasen mit Iris und Rosen. Doch dann erkrankte
Rose – sechzehnjährig – an den Blattern und wäre fast
gestorben. Heute wünscht sie sich, es wäre so
gekommen. Denn ihr Gesicht ist verunstaltet, ihr
linkes Auge erblindet. Inzwischen träumt Iris allein:
Sie möchte Leinwände bemalen und nicht nur dumme Puppenaugen,
Lippen und Wangen. Tatsächlich könnte sich dieser Wunsch
erfüllen: Der Maler Louis Frost von der Präraffalitische
Bruderschaft, kurz PRB genannt, ist begeistert von
Iris' außergewöhnlichem Aussehen, ihren langen roten
Haaren, ihrer majestätischen Erscheinung. Seiner Bitte, ihm für
sein Gemälde für die Weltausstellung Modell zu stehen,
folgt sie erst, als er ihr im Gegenzug Zeichenunterricht verspricht.
Mit
ihrem ehrlichen Talent überrascht sie ihn. Und Iris, die
sich so lange nach Anerkennung gesehnt hat, ist zum ersten Mal
in ihrem Leben glücklich. Louis erweist sich als großzügig, und
bald verbinden beide mehr als freundschaftliche Gefühle. Iris ahnt
nicht, dass noch jemand eine Besessenheit entwickelt und
seinen eigenen Plänen folgend sie zu der Seinen machen will. Nur
der kleine Albie, ein Straßenjunge, der Botendienste erledigt,
bemerkt die drohende Gefahr...
Elizabeth
Macneals „The Doll Factory“, ein historisches Romandebüt erster
Güte, beginnt wie ein Märchen, entfaltet sich zu einer zarten
Romanze und wird in seinem letzte Drittel zu einem extravaganten
Thriller mit hohem Gruselfaktor, in dem die Autorin nicht vor Elend
und Brutalität zurückschreckt. Sie bietet eine gespenstig
realistische und beachtenswerte Nachbildung des Londons des
viktorianischen Zeitalters und taucht ein in die brodelnde Energie,
die Pracht und den Alltag der Stadt. Dabei vermittelt sie Unbehagen
und Widerlichkeiten, die ihresgleichen suchen und raffiniert
dargestellt werden. Atmosphärisch formt Elizabeth Macneal eine
ungreifbare Angst voller Dunkelheit. Zeitweise wild und unruhig, aber
immer überzeugend.
Schonungslos
eindringlich und mit leidenschaftlicher Kritik beleuchtet Elizabeth
Macneal detaillreich das damalige Gesellschaftsbild, vor allem die
(Not)Situation der Frauen. Daneben gewährt sie Einblick in die
Schönheit und den Schrecken der Künste. Auf der einen Seite die
Maler der PRB, der Präraffaelischen Bruderschaft, zu denen Holman
Hunt, John Millais, Gabriel Rossetti und der fiktive Louis Frost
gehören, die sich der Wiederentdeckung der Natur verschrieben
haben und vor Eifer und Selbstbewusstsein strotzen. Auf der anderen
Seite der aufstrebende Präparator Silas Reed, der die Grenze
zwischen Zerstörung und Schöpfung überschreitet. Mit Silas hat die
Autorin einen komplexer Charakter geschaffen, der einen zwischen
Mitleid, Bedauern und Abscheu schwanken lässt.
In
„The Doll Factory“ agieren neben den erdachten Persönlichkeiten
einige historische und füllen die Seiten mit ihrer Begeisterung,
Faszination und Exzentrik. Hierbei darf natürlich ein Wombat namens
Guinevere nicht vergessen werden, zumal das Tier die Geschichte mit
manchen heiteren Momenten auflockert.
Iris
mit ihrem deformiertes Schlüsselbein – ein Geburtsfehler, durch
den sich ihre linke Schulter nach vorn wölbt – ist den Zwängen
ihrer Zeit, die ihre soziale Freiheit stark einschränken,
unterworfen, findet sich allerdings nicht damit ab und versucht, den
symbolischen und tatsächlichen Beschränkungen und Konventionen zu
entkommen, auch wenn der Preis hoch ist. Sie muss ihre Schwester
verlassen und mit der Ablehnung ihrer Eltern leben, als sie das
Angebot von Louis annimmt. Die neuen Eindrücke und ebenso die
erblühende Liebe zu dem Maler entschädigen Iris jedoch für den
Verlust, dennoch bleibt sie stets sie selbst. Und obwohl Louis'
Absichten nicht immer deutlich werden, nimmt er sie ernst und sieht
sie an, als wäre sie es wert, studiert, geschätzt und bewundert zu
werden.
Der
zehnjährige Straßenjunge Albie, der nur einen Zahn besitzt und für
den ein Gebiss unerschwinglich ist, ist eine Schlüsselfigur und
wächst einem ans Herz. Er kümmert sich um seine Schwester, die als
Prostituierte arbeitet, ist mit Iris befreundet und gleicht in seiner
Verkörperung von Unschuld und dem Gefühl der Hoffnung sehr einer
Gestalt aus einem Roman von Charles Dickens.
Auch
durch ihn wird „The Doll Factory“ eine unvergessliche Erfahrung
voller Freude, Farbe, Leben, Klugheit und Triumph und verweilt im
Gedächtnis.
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