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Tue
lebt mit seiner Familie auf einem Hof tief im Landesinneren von
Dänemark, weit hinter
der Stadt, eingequetscht zwischen unzähligen, anderen unbedeutenden
Dörfern. Aus seiner Sicht ist es ein Vorort der Finsternis, wo sich
niemand längere Zeit aufhalten sollte.
Was wird aus einem, wenn er es muss?
Tue ist der älteste von drei
Geschwistern. Sein Vater Lars betreibt Landwirtschaft im Nebenerwerb
und versucht sich an einer
Hundezucht. Trotzdem ist der Hof hoch verschuldet, das Geld fehlt an
allen Ecken und ohne die
finanzielle Unterstützung vom Onkel Chresten wäre die Lage noch
miserabler. Auch
die Arbeit von Mutter Lonny in der Fensterfabrik trägt nur
mittelmäßig zur Verbesserung der familiären
Situation bei. Alles in allem ist
es zum Leben zu wenig, aber zum Sterben zu viel.
Als
Tues Mutter das vierte Kind tot zur Welt bringt, kann sie den Verlust
der kleinen Stine nicht verwinden und versinkt in Schwermut. Sie
schläft viel, und sobald sie wach ist, sitzt sie vor dem Computer und
spielt Online-Poker.
Die
Depression der Mutter belastet die gesamte Familie. Die Geschwister
sind sich selbst überlassen, Erziehung findet im Grunde nicht statt. Und die Familie driftet immer mehr in das wirtschaftliche
Chaos und soziale Abseits ab.
„Es
war, als wäre der Tod ein Teil von mir, obwohl ich noch nicht
besonders alt war. Irgendwie war er immer da ...“
Tue
fühlt Hoffnungslosigkeit und träumt zwischen acht Hunden im Haus,
Tierkadavern und dem Klauen von Kupferkabeln von einer neuen Familie,
Die, zu der er gehört, ist anders, und er schämt sich dafür.
Doch
nicht allein auf dem Hof verspürt er Unwohlsein, sondern auch in der
Schule, wo er den harmlosen Klassenclown spielt, gemobbt wird und
keine richtigen Freunde hat.
Im
Laufe der Zeit wächst seine Sehnsucht nach mehr, er entdeckt sein
Interesse am eigenen Geschlecht, knüpft freundschaftliche Bande und hat sogar die Chance, das Gymnasium zu besuchen ...
Thomas
Korsgaard, Jahrgang 1995, schrieb seinen ersten
Roman
„Hof“ mit gerade mal 21 Jahren, und erzählt darin
mit Empathie die
von der eigenen
Vergangenheit inspirierte Geschichte der
problematischen Kindheit
und Jugend seines Protagonisten.
Tue, dem wir über einen Zeitraum von mehreren Jahren, beginnend im Alter von
zwölf, folgen, berichtet aus der
Ich-Position in Episoden über die
Ereignisse, ohne dass es einen
konkreten Handlungsablauf gibt.
Das ist durchaus irritierend, weil hierdurch nicht klar wird, in welcher
Zeit wir uns gerade bewegen, wenn wir die Entwicklung von Tue begleiten.
„Hof“
braucht den Vergleich mit Romanen,
in denen dysfunktionale
Familienbeziehungen geschildert
werden, nicht zu scheuen. Der
junge Autor legt
eine
sprachlich zwar nicht in Gänze
herausragende, aber gut lesbare
Darstellung einer Familie
im sozialen Abseits vor.
Gleichwohl soll nicht unerwähnt
bleiben, dass das Schicksal der Familie –
mit Geradlinigkeit und ohne Schnörkel in einer Mischung aus Ernst
und Tragikkomik geschildert –
empfindsamen
Lesern zusetzen dürften, ist es jedoch oft sehr deprimierend und
durchzogen mit abstoßenden Szenen.
Außerdem
komme ich
nicht umhin zu erwähnen,
dass das Debüt von Thomas
Korsgaard auch auf mich im
Grundton insgesamt traurig
wirkt,
zumal Tue das Dasein meist grau und aussichtslos erscheint.
Vordergründig
ist „Hof“ die Geschichte der Beziehung eines Jungen zu seinem
Vater. Einem Mann, der weder die Krankheit seiner Frau erkennt,
geschweige denn versteht. Einer, der unzuverlässig ist, lethargisch,
gerade kein Vorbild, ohne Interesse für die Bedürfnisse der
Familie.
Es
ist der Wechsel zwischen unvorhersehbaren Gewaltausbrüchen,
besonders nach dem Konsum großer Mengen Alkohol, und den liebevoll aussehenden Gefühlsbekundungen, die Tue in einen Zwiespalt
aus Hilfslosigkeit, Unsicherheit und Beschämung führen. Der Junge
reagiert mit Streichen und Fehlverhalten, auf die Geschrei,
Demütigungen, Herabwürdigungen und erneute Zurückweisungen folgen,
ohne dass ermahnende Worte und ernst gemeinte Gespräche stattfinden.
Es
wundert nicht, dass Tue sich in
seinen dunkelsten Momenten den Tod des Vaters vorstellt.
Manchmal
entsteht der Eindruck, dass Lars und Lonny
versuchen, ihre
drei Kinder zu lieben und
zu erziehen,
dazu aber
nicht in der Lage sind,
weil sie nicht über die emotionalen und finanziellen Mittel
verfügen.
Wie
soll es dann Tue und seinen Geschwistern gelingen, eine eigene
(Mit)Gefühlswelt zu entfalten?
„Hof“
ist eine Lektüre, die
mich in Teilen grundsätzlich berührt, allerdings auch abgeschreckt hat. Im ersten
Teil der Tue-Trilogie lässt Thomas Korsgaard einen winzigen
Hoffnungsschimmer zu, dass es für seinen Helden funktionieren
könnte, einen Weg losgelöst von den Umständen in der Familie
einzuschlagen. Es bleibt abzuwarten, wie es in „Stadt“
weitergeht.
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Der Roman ist im Kanon Verlag erschienen, dem ich für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares danke.