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„Die
Burg thronte über der Stadt. Der Mond blendete die Moldau, damit sie
nicht auch noch einschliefe … Am endlos gewölbten Himmel
leuchteten die Sterne stumm um die Wette. Die kälteste Nacht des
Jahres 1910 war hell und frostig.“
Trotzdem
droht der „Goldenen Stadt“
Prag
düsteres Ungemach.
Alle
blicken zum Himmel hinauf, wo nach
75
Jahre wieder der Halleysche Komet an der Erde vorbeiziehen wird. Das
öffnet skrupellosen Geschäftemachern und
dem organisierten Verbrechen sowie zudem Verschwörern
Türen und Tore. So wird die
multikulturelle Prager Bevölkerung wegen des
vermeintlich giftigen Schweifes des
Himmelskörpers und dem prophezeiten Weltuntergang
in größte
Aufregung versetzt.
In
dieser aufgeheizten Stimmung sorgen seltsame Todesfälle für weitere
Beunruhigung, wobei wegen der bei den Leichen befindlichen
Glasfläschchen alles auf Selbstmorde hindeutet. Das mag besonders
ein Mann nicht recht glauben: Egon Erwin Kisch arbeitet bei der
deutschsprachigen Prager Zeitung Bohemia und stößt als
Polizeireporter auf das Geschehen.
Während
er sich in die Ermittlungen stürzt, muss er sich zeitgleich mit
Veränderungen bei seinem Arbeitgeber auseinandersetzen. Den Posten
des Chefredakteurs übernimmt nämlich Gruber, ein Mann, der
augenscheinlich über einflussreiche Beziehungen, nicht aber über
Kenntnisse in der Zeitungsbranche verfügt. Mehrfach wird Kisch von
ihm ausgebremst.
Hilfreich
hingegen ist die Unterstützung von Lenka Weißbach, einer
jungen
Frau, die ihr Medizinstudium in
Berlin aufgegeben hat und wieder in Prag lebt, weil sie ihre Mutter
betreuen muss. Auch die
Beziehungen von Kisch zur Halb-
und Unterwelt sorgen dafür, dass
er den
einen oder anderen Hinweis erhält.
Als
eine Verschwörung enormen Ausmaßes immer eindeutiger wird, ist
die Suche nach den
Urhebern
nicht nur dringend,
sondern auch lebensbedrohend.
Der
von Tabea Soergel und Martin
Becker in Gemeinschaft
geschriebene Roman „Die Schatten von Prag“ liest sich wie ein
Kaleidoskop der Ereignisse des Jahres 1910. Dank
einer intensiven Darstellung der Örtlichkeiten werden
wir mitten hineingeworfen
in die
lebhafte
Atmosphäre der historische
Metropole an der Moldau, in
der sich die Vergangenheit mit der
Zukunft, das
Traumhafte mit der Wirklichkeit, Schönheit
mit Bizzarem verbindet.
Das
Autoren-Duo jongliert mit den Fakten und findet die Balance zur
Fiktion, erzeugt Spannung und entwirft ein zeitlich
und inhaltlich stimmiges Porträt
der Stadt, in der durch das
Nebeneinander vieler Nationalitäten in unterschiedlichen
Klassengesellschaften und damit verbundenen Hierarchien
Konfliktpotential herrscht, Licht
und Schatten dicht nebeneinander liegen.
Als
geglückt
erweist sich die Idee,
den realen Egon
Erwin Kisch in den Fokus von kriminellen Ermittlung zu stellen. Ja,
der später in Deutschland als
„rasender
Reporter“ Gerühmte,
der mit einem instinktmäßigem
Gespür für Situationen punktet,
couragiert
agiert, zur Übertreibung neigt
und einen Hauch Melancholie versprüht, fügt
sich hier tadellos ins Geschehen ein, zumal ihm die Autoren die
fiktive Lenka Weißbach mit einem
scharfen, logisch analysierenden Verstand an
die Seite gegeben haben. Die junge Frau, die Medizin nur in
Erinnerung an ihren verstorbenen
Vater
studiert, ist aus der schillernden Großstadt Berlin, dessen wilde
Nächte und die erste große Liebe
sie schmerzlich vermisst, zurück nach Prag gekommen, weil ihre
Mutter sie braucht. Adieu Selbstverwirklichung! Adieu Claire!
Dem
Medizinstudium widmet
sie sich in Prag nicht mehr.
Stattdessen übernimmt sie einen
Job
als Schreibmaschinenfräulein bei
der „Bohemia“, jener
Zeitung, die Kisch ebenfalls beschäftigt. Plötzlich
bietet auch das
in ihren Augen eher provinziell anmutende Prag mehr Reize als
angenommen und die Chance, sich
gegen das herrschende Frauenbild zu wehren.
Anspruchsvoll
sind nicht allein die vielen Figuren,
deren Zuordnung das eine oder andere Mal neu überdacht werden muss,
sondern die Fülle an Informationen, die die Autoren in den
Handlungsablauf einfügen.
Dadurch erhält das gesamte Werk eine Komplexität, die es
gelegentlich erschwert, dem Verlauf der Ereignisse konsequent zu
folgen, die Beteiligten konkret zuzuordnen und dadurch zum
Treibenlassen bei der Lektüre animiert. Kompliziert sind auch
einzelne Beziehungsverflechtungen, so dass es bisweilen
an der
Nachvollziehbarkeit von
Empfindungen mangelt. Dies wird jedoch hier und da durch das Aufblitzen von Ironie und Witz gelockert.
Schlussendlich
bietet „Die Schatten von Prag“
gelungene Unterhaltung im Gewand eines historischen Kriminalromans,
die gern eine Fortsetzung erfahren darf. Und tatsächlich erscheint
der zweite Fall im Herbst diesen Jahres.
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Der Roman ist im Kanon Verlag erschienen, dem ich für die Bereitstellung des Rezensionsexemplares danke.
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