Samstag, 28. April 2018

Die Meerjungfrau und die Kurtisane

Eine Meerjungfrau ist ein gefährlicher Fang. Genauso wie eine Kurtisane. Diese Erfahrung muss eines Tages Jonah Hancock, ein gut situierter, etwas korpulenter Kaufmann mittleren Alters, machen. Bislang ist Jonah Hancock seinen Weg ehrlich und stringent gegangen. Aber seit dem Tod seiner Frau und seines Sohnes, dessen Geist er manchmal begegnet, ist er einsam. Er sehnt sich nach jemandem, mit dem er sein Leben teilen kann, vergräbt sich statt sich auf die Suche zu begeben, in seine Arbeit. Als endlich der Kapitän seines sehnlichst erwarteten Frachtschiffs Calliope eintrifft, folgen der anfänglichen Freude nicht nur Ernüchterung, sondern auch Entsetzen. Denn Captain Jones hat das Schiff verkauft. Für eine Meerjungfrau. Eine tote Meerjungfrau. Was bitteschön soll er, Jonah Hancock, seriöser Geschäftsmann mit tadellosem Ruf, mit solch einer wilden Kreatur?

Jonah Hancock lässt sich überreden, die Meerjungfrau auszustellen, und tatsächlich entpuppt sich dieses über alle Maßen hässliche und groteske Wesen – wie von Captain Jones vorausgesagt – als wahre Goldgrube. Die Menschen stehen Schlange, um es zu sehen, bezahlen dafür, und die Truhen von Jonah Hancock füllen sich.

Die Ausstellung ruft Beth Chappell auf den Plan, ihres Zeichens Betreiberin eines erstklassigen Bordells. Sie überredet Jonah Hancock, ihr die Meerjungfrau zu leihen, und der Kaufmann lässt sich darauf ein.

Anlässlich der Präsentation der Meerjungfrau im Haus von Mrs. Chappell mit Aristokraten und Politikern begegnet Jonah Hancock der Kurtisane Angelica Neal. Einst hat Angelica für die Wirtin gearbeitet, und diese lässt nichts unversucht, Angelica zur Rückkehr zu bewegen. Nach dem Tod ihres Gönners, eines Herzogs, ist Angelica darauf angewiesen, einen neuen Mann zu finden, der sie versorgt. Denn ihre Unabhängigkeit von Beth Chappell möchte sie nicht aufgeben.

Jonah ist von der üppigen, temperamentvollen Schönheit begeistert. Gleichzeitig wird sein bürgerliches Empfinden von unanständigen Szenen im Bordell auf Tiefste erschüttert. Er verlässt das Haus angewidert, fordert die Meerjungfrau zurück und verkauft sie.

Angelica kann er hingegen nicht vergessen und bemüht sich um sie. Diese hat sich zwischenzeitlich dem adligen, aber mittellosem George Rockingham zugewandt, wird allerdings von jenem fallengelassen, als es darum geht, ihre Auslagen und Schulden zu zahlen. Wie soll sie diesem Dilemma entkommen? Jonah Hancock ist rettend zur Stelle. Er erhält eine Ehefrau, Angelica die gewünschte Absicherung und ein respektables Leben. Das ist ihre Chance auf Glück. Doch existiert ein solches für Angelica wirklich? Es ist gefährlich, aus seiner Welt gerissen zu werden. Das gilt für eine Kurtisane als auch für eine Meerjungfrau...


Für ihren Debütroman „Die letzte Reise der Meerjungfrau oder wie Jonah Hancock über Nacht zum reichen Mann wurde“ hat Imogen Hermes Gowar drei Jahre lang recherchiert, geforscht und gelernt, im Sprachduktus des 18. Jahrhundert zu schreiben.

Der Aufwand und die Arbeit haben sich gelohnt. Die Autorin bewegt sich mit ihrem opulenten Stil des Inszenierens auf herausragenden Niveau. Sie findet mit außergewöhnlich gutem Gespür den Ton der Zeit und gibt ihn in nuancierter Art und Weise wieder, so dass das Lesen und folglich Eintauchen in eine vergangene Realität zum Erlebnis werden. Dabei nutzt sie in wunderbarer Kunstfertigkeit die Art der Kommunizierens im London des zweiten Drittels des 18. Jahrhunderts. Zurückhaltend und distanziert und damit ein wenig ungewohnt, indes bei der Lektüre überhaupt nicht hinderlich.

Hinzu kommt, dass durch das Erzählen in der Gegenwart eine Präsens entsteht, die uns unmittelbar in die Geschichte hineinzieht und einbindet. So befinden wir uns mitten in einem Geschehen, das historische Gegebenheiten wie die Ungleichheit zwischen den Klassen, Geschlechtern und Hautfarben thematisiert und diese mit dem Mythos und der Legende der Meerjungfrau mittels eingeflochtener lyrischer Passagen verknüpft.

Noch zu berücksichtigen ist der feinsinnige Humor, der den Zeilen das eine oder andere Mal entströmt. Hierbei gelingt es der Autorin, mit unseren Zweifeln zu spielen. Existieren Meerjungfrauen oder nicht? Wir wissen, dass es diese Geschöpfe nicht gibt. Aber wir lassen uns gern auf dieses Spiel der Phantasie ein, geben uns der Illusion hin, dass es möglich kann. Wir möchten, dass es so ist und vergessen für einen Moment die Wirklichkeit.

Faszinierend ist außerdem das Können von Imogen Hermes Gowar, das Milieu und die Umstände auf den Punkt zu schildern, insbesondere die Abhängigkeit der Frauen von den Männern zu beleuchten.

Das überträgt sich auf die Protagonisten. Die Autorin hat bemerkenswerte, mit Brillanz ausgearbeitete Figuren geschaffen, deren Tiefgründigkeit sich langsam, dann jedoch mit Wucht offenbaren.

Da ist zum einen Jonah Hancock, ein aufrichtiger, empfindsamer Mann, mit einem einfachen Herzen voller Sehnsucht, und trotzdem und erstaunlicherweise bereit, etwas Neues zu wagen. „Ich habe mein Leben bisher nicht ausgeschöpft… Und jetzt wurde mir etwas Großes aufgezeigt. Ich wäre ein Narr, wenn ich nicht mehr für mich erstreben würde…“ (Seite 121)

Und wir lernen Angelica Neal kennen, eine Frau, die auf den ersten Blick eitel, seelenlos und unmoralisch wirkt, gleichzeitig über eine unwiderstehliche Schönheit und eine gewisse Wahrhaftigkeit verfügt und durchaus Parallelen zu einer Meerjungfrau aufweist.

„Denn eine Meerjungfrau ist ein höchst unnatürliches Wesen und ihr Herz ohne Liebe." (Seite 90)

Im Grunde ist Angelica ein Geschöpf der Umstände, und bei genauerer Betrachtung, versucht auch sie nur, das Bestmögliche aus eben diesen zu machen. Sie steht zu ihrem Handeln, und sie möchte Unabhängigkeit, zumindest von Mrs. Chappell, ihrer einstigen Bordellwirtin. Denn wirklich frei wird sie nie sein können, weil sie immer auf die Gunst eines Mannes angewiesen ist. Ob als Kurtisane oder als Ehefrau...



Imogen Hermes Gowar meistert eine anspruchsvolle und eindringliche Darstellung von Sein und Schein, Realität und Mythos. Einfach grandios!

1 Kommentar:

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