Sonntag, 21. Februar 2021

Jedes Jahr im Juni

Mit Sechzehn lässt Emmie Blue auf dem Hof ihrer Schule einen roten Luftballon steigen, der neben ihrer E-Mail-Adresse auch ein Geheimnis enthält, in der Hoffnung, dass ihn jemand findet und ihr antwortet.

Jetzt ist Emmie Blue dreißig, und ihr bester Freund Lucas, der eben jenen Ballon damals an einem Strand in Frankreich entdeckt und ihr geschrieben und sie daraufhin persönlich kennengelernt hat, bittet sie, seine Trauzeugin zu sein. Die beiden verbindet nicht nur eine innige und intensive Freundschaft, sie haben auch am selben Tag Geburtstag. Und Lucas' Eltern und sein drei Jahre älterer Bruder Eliot waren in den letzten Jahren mehr Familie für sie, als es ihre Mutter jemals sein wird. Was Lucas nicht ahnt: Emmie ist verzweifelt in ihn verliebt und hofft und wartet bislang geduldig darauf, dass er erkennt, der Richtige für sie zu sein. Nicht allein für diesen Traum hat sie ihr eigentliches Leben vernachlässigt. Sie fühlt sich winzig klein, bedauernswert, bedeutungslos, arbeitet als unterbezahlte Küchenhilfe in einem Hotel und wohnt zur Untermiete bei einer alten Dame.

Obwohl sie tief in sich drin weiß, dass sie aus hartem Holz geschnitzt ist. Und dass sie ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen muss.

Denn nicht ohne Grund sagt ihr Eliot: „… wenn du … dich stattdessen zurücklehnst und darauf wartest, dass irgendjemand – irgendetwas – sie für dich regelt, bist du irgendwie verloren.“ (Seite 103)

Lia Louis hat es mir mit ihrem Debüt "Jedes Jahr im Juni" am Anfang nicht leicht gemacht. Ihre Heldin, die von der Erfüllung der großen Liebe zu ihrem besten Freund Lucas träumt, zeigt sich allzu unsicher für eine Dreißigjährige, und die Handlung verlor sich ohne deutbare Struktur in den Gedankengängen der jungen Frau.

Doch ich bin froh, dass ich mich vom ersten Eindruck nicht täuschen lassen habe. Letztlich erweist sich die Geschichte von Emmie Blue auf der Suche, die aus ihrer Ich-Position heraus erzählt wird, nicht nur als bezaubernd und gefühlvoll, unbeschwert und zugleich ergreifend geschrieben, sondern ist ebenso ein mit viel Romantik, freundlichem Humor, einem Hauch Melancholie und einer maßvollen Tiefe versehendes Lehrstück darüber, dass das Leben und die Liebe nicht planbar sind und Überraschungen manchmal unerwartet, indes nicht unwillkommen eintreffen.

Emmie Blue hat in den letzten Jahren einiges meistern müssen: Ein traumatisches Erlebnis, das ihre Existenz auch nach vierzehn Jahren immer noch bestimmt. Ein schwieriges Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Suche nach ihrem unbekannten Vater. Trotzdem ist sie äußerst bodenständig und zu jeder Zeit hilfsbereit, besonders wenn Lucas sie braucht. Aber sie muss ihr Selbst finden und ihren Wert erkennen und erst lernen, Dinge einzufordern und mit Enttäuschungen abzuschließen. Nur so wird der Weg frei für die Liebe und das eigene Glück.

Es macht den Reiz der Lektüre aus, Emmie dabei in der Gegenwart und während der Rückblicke in die Vergangenheit zu begleiten. Außerdem entpuppen sich all jene liebenswerten, keinesfalls fehlerlosen Charaktere, die mit Witz und Weisheit Gefährten auf die eine oder andere Art von Emmie sind und werden, als wundervoll. Jeder von ihnen – ob nun Lucas, Eliot, Rosie, Fox oder Louise – füllt eine besondere Rolle aus, die zum Gelingen einer feinsinnig und herzenswarmen Geschichte beitragen.

4,5 Sterne


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