Dienstag, 30. April 2019

Arrangement mit dem Vergessen



In Frankfurt am Main finden um 1963 von den Menschen zunächst wenig beachtet die Vorbereitungen für den ersten Auschwitz-Prozess statt. Auch für Eva Bruhns, die in einer Agentur als Dolmetscherin für Polnisch angestellt ist, hat dies keine Bedeutung, bis sie überraschend gebeten wird, bei der Staatsanwaltschaft die Aussage eines Mannes zu übersetzen. Während der eindringlichen Schilderung des Zeugen erfährt sie Unglaubliches, ja Unfassbares über Ereignisse im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.

Hat es dieses absurde und monströse Geschehen, dass Gefangene in dem Lager vergast wurden, tatsächlich gegeben? Durch die Beschreibungen sensibilisiert, entwickelt Eva eine besondere Nähe, so dass sie sich als Ersatz für den ausgefallenen Übersetzer im Prozess zur Verfügung stellt.

Die unbedarfte junge Frau stammt aus gutbürgerlichem Haus und lebt mit ihrer älteren Schwester Annegret, einer auf der Neugeborenenstation tätigen Krankenschwester, und ihrem jüngeren Bruder Stefan noch bei ihren Eltern. Ludwig und Edith Bruhns betreiben das beliebte Lokal „Deutsches“ Haus“, in dem sie gutbürgerliche Küche auf den Tisch bringen. Der Vater kocht mit Leidenschaft, die Mutter bedient die Gäste.

Als ihre Eltern von Evas Vorhaben erfahren, reagieren sie mit Ablehnung. Von ihrer Mutter Edith bekommt Eva zu hören: „Lass die Vergangenheit Vergangenheit sein, Eva. Das ist das Beste, glaub mir." (Seite 67) Für ihre Schwester ist unbegreiflich, auf was sie sich da einlassen will. Der Krieg liegt doch in weiter Ferne. Und so schlimm es auch gewesen sei, über das damalige Geschehen sei am besten der Mantel des Schweigens gezogen.

Selbst ihr Verlobter Jürgen, dessen Vater einen erfolgreichen Versandhandel betreibt, ist vehement gegen Evas Vorhaben. Obwohl gerade auch Jürgens Vater als Kommunist von den Nazis verfolgt und eingekerkert wurde, vermeidet Jürgen den Rückblick in die Vergangenheit. Außerdem hat nach seiner Ansicht Eva als seine zukünftige Frau seinen Wünschen zu gehorchen, so dass er sie vor die Wahl stellt, entweder am Prozess teilzunehmen oder die Beziehung zu beenden.

Wenngleich Eva Gefahr läuft, die gute Partie, die sie mit Jürgen gemacht hat, zu verlieren, und sie sich nicht für willensstark und selbstsicher hält, regt sich in ihr ungeahnter Widerstand, sich dem gängigen Rollenbild von der gehorsamen (Ehe)Frau nicht zu fügen.

Und so beeinflusst der Verlauf des Verfahrens nicht nur Eva und ihre Sicht auf das Leben. Während die Aussagen der Opfer und das damit verbundene Leid sich in Eva Kopf einbrennen, empört sie die augenfällige Uneinsichtigkeit, ja maßlose Überheblichkeit die Angeklagten, keinerlei Schuld zu tragen.

Infolge des Prozesses verschlechtert sich nicht nur die Beziehung zu Jürgen, sondern auch ihre Eltern reagieren immer noch mit Ignoranz und Unverständnis. Eva kommt der ungeheuerliche Verdacht, dass sie etwas vor ihr verbergen. Und sie entdeckt, dass sich in ihrer eigenen Familie Abgründe auftun...



Mit „Deutsches Haus“ hat die Drehbuchautorin Annette Hess ihren ersten Roman geschrieben, mit dem sie einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit leistet.

Im Grundgerüst ist ihre Geschichte gut erzählt und wirkt in ihrem dramaturgischen und mit Wendungen versehenen Gesamtbild filmisch prägnant in Szene gesetzt. Besonders die Darstellung der Welt im Kleinen, des Alltags einer einfachen bürgerlichen Familie und die Beschreibung des damaligen Frauenbildes sowie des Loslösens aus einer vorgezeichneten Rolle gelingen der Autorin. Ebenso belegt die Schilderung der Ereignisse im Gerichtssaal des ersten Auschwitz-Prozesses eine aufwändige Recherche und erzeugt beim Lesen einen nachhaltigen Klang. Dabei gibt es Schicksale, die einem nahe gehen, beispielsweise das des jüdischen Ungarn Otto Cohn, der als Zeuge vor Gericht aussagt. Auch die Begegnungen in Auschwitz sind voller Kraft und Berührung.

Leider erschließt sich der Hintergrund des von Annette Hess gewählten Handlungsstrangs bezüglich Evas Schwester Annegret nicht in Gänze. Zudem wird der Lesefluss durch einige unbeholfene Unebenheiten in sprachlichen Ausarbeitung gehemmt.

Während Eva Bruhns mit einer glaubwürdigen Charakterisierung die Lesersympathie gewinnt, entwickeln sich bei anderen Protagonisten zum Teil gemischte, zweifelnde Empfindungen. Besonders David, der Rechtsreferendar, der unter einer eingebildeten Opferrolle leidet, hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. Daneben ist Jürgen, Evas kleingeistiger Verlobter, ebenfalls nicht wirklich greifbar, und seine Intention bleibt blass.

Bedeutend hingegen ist die Auseinandersetzung der Autorin mit der zwanzig Jahre nach Beendigung des Krieges weiterhin vorhandenen Einstellung der Deutschen, sich nicht mehr mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen zu wollen, das Geschehene zu verdrängen und damit ihre Kinder im Ungewissen zu lassen. Vor allem die Beschäftigung mit der Frage, ob die Behauptung, keine Wahl gehabt zu haben, nicht einfach nur Schönfärberei des eigenen Gewissens gewesen ist, ist nach so langer Zeit immer noch wichtig...

3,5 Sterne

1 Kommentar:

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